Opferschuld
musste.
Bei dieser Erinnerung fiel ihm ein, dass er womöglich nicht mehr genug saubere Unterhosen hatte. Er nahm die schmutzige Wäsche aus dem Korb im Badezimmer und stopfte sie in die Waschmaschine. Noch vor einer Woche hätte die Wäsche ihn einen ganzen Tag lang beschäftigt. Erst hätte er alles genau geplant und dann in der Küche gesessen und in dem Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, seinen Unterhosen dabei zugesehen, wie sie in dem Seifenwasser umherwirbelten. Heute war es eine lästige Arbeit, die er sich vom Hals schaffen musste. Er hatte noch zu tun.
Er hatte Hunger. Hatte er am Vortag etwas gegessen, nachdem er aus dem
Anchor
gekommen war? Er wusste es nicht mehr. Sein Kopf war voller Pläne gewesen, und er hatte den Whisky ausgetrunken, was seine Erregung weiter schürte. Jetzt plünderte er den Kühlschrank wie ein kleiner Junge, der ausgehungert aus der Schule kommt, und briet sich Eier, Bacon und ein paar übriggebliebene Kartoffeln. Den Teller ließ er in der Spüle stehen, denn er brannte darauf, rauszukommen, ohne rechte Idee, wohiner eigentlich gehen sollte. Als er aus dem Bungalow trat, schlug die Kirchturmuhr die Dreiviertelstunde. Viertel vor acht. Immer noch zu früh für all das, was er sich gestern Abend vorgenommen hatte, aber er konnte einfach nicht länger zu Hause warten.
Der Regen hatte aufgehört. Er ging die schmale Straße hinunter, die zur Flussmündung führte. Der Weg wurde von weit auseinanderstehenden Straßenlaternen beleuchtet, und die Straße lag schwarz und nass glänzend da wie geschmolzener Asphalt. Auf der einen Seite stand eine Reihe Cottages aus Ziegelstein. Jetzt brannten auch schon Lichter, und ab und zu entwischte ein Geräusch – eine Tür wurde zugeschlagen, ein Radio dudelte los –, nur um vom Wind mitgerissen zu werden. Auf der anderen Straßenseite waren Felder mit struppigem Weideland und ein paar Schafen. Er konnte die Schafe nicht sehen, wusste aber, dass sie da waren. Er hörte, wie sie sich bewegten. Die Felder waren durch eine Steinmauer von der Straße getrennt, und er ging zügig gegen den Wind voran, bis er zu einer Lücke in der Mauer kam. Hier standen keine Häuser mehr. Er hatte den Rand des Dorfes erreicht.
Der Durchgang wurde durch ein Tor versperrt, und einen Augenblick lang dachte er, dass es vielleicht verschlossen war und er gezwungen wäre, darüberzuklettern. Er war schon oft hier gewesen, aber nur bei Tageslicht. Für gewöhnlich am späten Nachmittag, wenn die Sonne schräg durch die Maulbeerbäume fiel. In letzter Zeit aber nicht, in letzter Zeit hatte er sogar das abgelehnt. Maulbeerbäume behielten ihr Laub immer lange in den Herbst hinein, und selbst jetzt hingen an manchen Bäumen noch Blätter. Sie rauschten im Wind, und er ließ sich kurz täuschen und meinte, die zurückweichende Flut in der Flussmündung zu hören.
Das Tor war nur eingeklinkt und ließ sich leicht öffnen. Schon stand er drinnen, auf vier Seiten von Bäumen umgeben. Er blieb nicht stehen, um die kleine Tafel auf dem Tor zu lesen. Er wusste, was da stand.
Friedhof der Gemeinde Elvet. Gegründet 1853.
Im Osten wurde der Himmel langsam heller, und er konnte die bleichen Platten der Grabsteine erkennen. Pegs Grab hätte er auch im Stockfinsteren gefunden. Sie hatte beerdigt werden wollen. Das war eine der Anweisungen gewesen, die sie ihm gegeben hatte, auf die gleiche Weise zwischen ihren trockenen Lippen hervorgepresst wie ihre Tipps zur Bedienung der Waschmaschine.
Er war gekommen, um seinen Frieden mit Peg zu machen . Unterwegs hatte er sich die Worte zurechtgelegt.
Nach deinem Tod bin ich zusammengebrochen. Du weißt ja, wie ich bin. Zu nichts nütze ohne dich. Aber jetzt wird alles anders.
Doch anstatt zu ihr zu sprechen, erinnerte er sich auf einmal an den Moment, als ihm klargeworden war, dass sie krank war. Das war nicht lange nach dem Tod der kleinen Mantel gewesen. Der Mord hatte Peg aufgewühlt. Furchtbar aufgewühlt, als wäre sie Abigails Mutter gewesen. Und sie sagte, genau so fühle es sich auch an, so als hätte sie die Tochter verloren. Es war eine schreckliche Zeit. Jeanie lief ziellos im Haus herum und versuchte, Mantel zu erreichen, obwohl der deutlich gesagt hatte, dass er nicht mit ihr sprechen wollte. Peg trauerte um ein Mädchen, das sie kaum gekannt hatte. An jenem Morgen waren sie beide in der Küche. Peg buk Scones für irgendein Kirchenfest. Für den Herbstmarkt? Sie rollte den Teig aus und teilte ihn mit einem umgedrehten
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