Opferschuld
Dunkeln.
«Der Flügel ist weg», sagte Emma.
«Bitte?» James hatte gerade Mantel entdeckt. Er war mit den Gedanken woanders.
«In dem Zimmer stand ein Flügel. Jeanie hat immer darauf gespielt. Abigails Vater muss ihn fortgeschafft haben …»
Ihre weiteren Worte wurden von der anbrandenden Rockmusik weggeschwemmt, die aus der Anlage im Garten dröhnte, und ging in den Hurrarufen der Menge unter, als das Lagerfeuer entzündet wurde. Die Musik wurde auf eine weniger schmerzhafte Lautstärke herabgeregelt, doch da hatte sie schon aufgehört zu sprechen.
Mantel stand im Eingang des Wintergartens und hieß die hereinkommenden Leute willkommen. Er hatte den Dreh der Politiker heraus, alle so zu begrüßen, als wären es alte Freunde, obwohl er kaum Zeit im Dorf verbrachte und sie unmöglich alle kennen konnte. Neben ihm stand eine große Blondine, die Jeans und eine weiße Leinenbluse trug. Ihre Stiefel hatten Absätze und ließen sie größer erscheinen als ihn.
Sehr hübsch, Keith. Viel stilvoller als die Frauen, mit denen du es sonst so getrieben hast. Aber Geschmack hast du ja schon immer gehabt …
Einen Moment lang glaubte James, er müsse die Worte laut ausgesprochen haben, denn Emma klammerte sich plötzlich an seinen Arm. Panik durchzuckte ihn, als er dachte, Mantel könnte es gehört haben, doch dann sah er, dass um ihn herum alles ganz normal weiterlief, und es blieb nur eine Mischung aus Hochgefühl und Furcht zurück. So war es bei Keith schon immer gewesen.
Das Paar vor ihnen in der kurzen Schlange ging weiter, und er stand Auge in Auge mit Mantel. Aufgeregt holte er Luft, doch es war Emma, die Mantel erkannte und der ersich zuwandte. Er zog sie mit einer Umarmung an sich. James spürte, wie unangenehm ihr das war, aber dagegen konnte er jetzt kaum etwas tun.
«Emma, meine Liebe. Wie tapfer von dir, in einer Zeit wie dieser hierherzukommen! Ich habe an dich gedacht bei dem schrecklichen Rummel.» Er klang ganz ruhig.
«Es ist ja für einen guten Zweck.» James glaubte, die Ironie in seinen formelhaften Worten zu hören, aber Mantel nahm sie ohne Zögern ernst.
«Ganz genau, wie Sie sagen. Ich habe die gute Sache schon immer unterstützt. Schon als ich noch in der Stadt wohnte.»
«Das ist James», sagte sie. «Mein Mann.»
Mantel hielt die Augen noch immer auf Emma gerichtet, ihre Hand noch immer in der seinen, er schaute kaum auf.
«Du wohnst wieder in Elvet, habe ich gehört. Im Captain’s House.»
«James ist Lotse auf dem Humber. Es ist sehr praktisch so.»
Dann wandte Mantel sich zu James, legte die Stirn leicht in Falten. James glaubte nicht, dass er das tat, weil er ihn erkannte, vielmehr war es ein Gesichtsausdruck, den er früher schon gesehen hatte: Mantel verankerte den Happen Information in seinem Kopf, denn eines Tages könnte er von Nutzen sein. Das Stirnrunzeln verschwand fast sofort wieder.
«Nun denn, was möchtet ihr trinken? Debs holt euch was. Das hier ist Debs, die neue Frau in meinem Leben.» Und wieder runzelte er die Stirn, um zu zeigen, dass er durchaus wusste, wie heikel die Situation war. Schließlich war es gerade einmal ein paar Tage her, dass sich eine ehemalige junge Geliebte von ihm erhängt hatte. Ein gewisser Taktwar da schon angebracht. «Wohnen deine Eltern noch in Springhead House, Emma? Und hattest du nicht auch einen Bruder? Ein cleverer Bursche, der dann studiert hat. Er war doch mal in Abigail verliebt.»
Es war das erste Mal, dass er seine Tochter erwähnte. Er machte eine Pause, und James dachte: Er ist wie ein Schauspieler, der auf Applaus wartet. Er erwartet, dass man seine Tapferkeit irgendwie würdigt. Und Debs, gut dressiert, legte ihm voller Mitleid den Arm um die Schultern. Emma hatten die Worte stärker bewegt, doch Mantel achtete nicht weiter darauf. Er wandte sich ab und war schon weitergegangen, um den Nächsten in der Schlange zu begrüßen.
Kapitel neunzehn
Emma ließ sich von Keith Mantel nicht täuschen. Er zog eine gute Show ab, aber sie glaubte nicht, dass er über den Mord an Abigail hinweg war. Deswegen hatte er sich so schnell von ihr abgewandt, nachdem er seine Tochter erwähnt hatte. Er wollte nicht, dass Emma sah, wie sehr ihn das noch mitnahm. Und wie hatte er das von Christopher erfahren? Abigail musste gemerkt haben, dass Christopher verknallt in sie war, und hatte es bestimmt ihrem Vater erzählt. Emma hoffte, dass sie sich nicht über ihn lustig gemacht hatten. Ein schreckliches Bild kam ihr vor Augen, wie
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