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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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Phantasien nicht gerecht werden. Wie soll man sich auch mit einem Wunschtraum messen?»
    «Wollen Sie damit sagen, dass er in jenem Sommer mit Abigail zusammen war?»
    «Nein. Natürlich nicht. Höchstens in seinen Träumen.»
    «Sind Sie sicher?»
    «Sie hätte ihn keine zwei Mal angeschaut. Höchstens, um sich über ihn lustig zu machen. Er war jünger als sie, ein Außenseiter, irgendwie eigenartig. Ich dachte, das hätte er inzwischen abgelegt, aber er war immer noch äußerst eigenartig, als er jetzt hier war.»
    «Abigail hatte aber einen Freund.»
    Stopp!, schrie Vera innerlich. Mach da nicht weiter. Noch nicht. Geh darauf ein, dass er so eigenartig war. War er anders als sonst, und wenn ja, warum?
    Aber Emma antwortete Ashworth schon. «Ich wusste nichts von einem Freund. Es kommt mir auch unwahrscheinlich vor. Ich meine, wir haben in dem Sommer viel Zeit miteinander verbracht, und sie hat nie jemanden erwähnt.»
    Ashworth blickte sie fest an. «Sie war keine Jungfrau mehr. Wussten Sie das?»
    «Nein!» Emma wirkte entgeistert. Einen Moment lang schwieg sie und schien die Neuigkeit zu verdauen. «Aber ich war auch sehr unerfahren und naiv. Ich habe ein behütetes Leben geführt. Wenn ich an Jungs dachte, dann stellte ich mir vor, dass sie mich küssten, die Arme um mich legten. Mehr nicht. Ich wusste schon Bescheid über die biologischen Zusammenhänge, aber mir wäre nie in den Sinn gekommen   …»
    «Und Abigail hatte mehr Erfahrung?»
    «Ja, in jeder Hinsicht, aber das war auch nicht schwer. In meinen Augen war sie unglaublich kultiviert. Sie wusste über alles so viel besser Bescheid als ich.»
    «Zum Beispiel?»
    «Musik. Von der Hälfte der Bands, über die in der Schule alle redeten, hatte ich nicht mal gehört. Wir hatten keinen Fernseher. Wissen Sie, wie benachteiligt man da ist? Ich bin zu ihr gegangen, um
Top of the Pops
zu sehen, sie hatten damals auch schon Satellitenfernsehen   … Oder Schminke. Ich wusste ja nicht mal, was man mit Reinigungsmilch anstellt. Nicht, dass mir meine Eltern das Zeug verboten hätten. Aber sie hätten es für frivol gehalten, eine Verschwendung von Zeit und Geld   … Oder Mode   … Filmstars   …Durch Abigail wurde mir klar, dass ich nichts vom Leben wusste.»
    Ashworth lächelte. «Sie kannten sich aber sicherlich bei Dingen aus, von denen sie nichts wusste.»
    «Ja, klar. Lateinische Verben. Gleichungen. Die Bibel. Genau das, womit man vor seinen Freunden angeben will, wenn man fünfzehn ist.» Sie schwieg kurz. «Schauen Sie, die meiste Zeit über redete sie, und ich hörte zu. Damals habe ich das nicht gemerkt, aber genau dafür war ich da. Um ihr zu zeigen, wie brillant sie ist.»
    «Klingt, als wäre sie ziemlich unsicher gewesen. Wenn sie immer recht haben musste   …»
    «Finden Sie? So habe ich das noch nie gesehen.»
    Einen Augenblick lang schwiegen beide. Aus dem Babyphon auf der Anrichte konnten sie hören, wie Matthew im Schlaf schniefte. Dann fing er an zu wimmern.
    «Haben Sie sich denn überhaupt über Sex unterhalten?»
    «Immer nur ganz allgemein. In dem Alter denkt man ja dauernd darüber nach. Aber da ging es darum, für wen wir schwärmten. Für welchen Popstar, welchen Lehrer, welchen von den Jungs aus der Schule. Dass sie mit jemandem schlief, hat sie mir jedenfalls nicht erzählt.»
    «Warum nicht, was glauben Sie? Hatte sie Angst, Sie zu schockieren?»
    Wieder herrschte Schweigen. Schließlich sagte Emma: «Ich kann mir nach all der Zeit auch nicht erklären, was sie so dachte. Ich hatte ein Bild von ihr im Kopf, und dann hat Christopher mir ein ganz anderes gezeigt. Ich bin mir nicht mehr sicher, was in ihr vorging. Dass sie Angst hatte, mich zu schockieren, glaube ich aber nicht. Sie hat mich immer gern als spießig und altmodisch hingestellt. Vielleicht war ihr Freund ja nicht so cool und beeindruckend, wie sie es gern gehabt hätte. Irgendein Loser. Das hätte sie für sichbehalten. Sonst könnte ich mir nicht vorstellen, wieso sie es hätte geheim halten wollen.»
    «Auch nicht vor ihrem Vater?»
    «Nein. Ich hatte immer den Eindruck, dass sie und Keith sich richtig gut verstanden. Sie hatten jedenfalls nie Krach. Er schrie sie nie an. Sie konnte tun, was sie wollte. Er hat ihr vertraut, glaube ich. Aber alles in allem kann er nicht viel Zeit mit ihr verbracht haben. Er musste Jeanie bei Laune halten, und seine Arbeit nahm die meiste Zeit in Anspruch. Abigail bekam alles, was sie wollte, aber ich bin mir nicht sicher, dass er

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