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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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mittlerweile besaß er mehr Selbstvertrauen. «Genau. Bis er am Ende selbst daran geglaubt hat. Er hat die Sache irgendwo tief in seinem Gedächtnis vergraben, und als Jeanie verurteilt wurde, hat er sich eingeredet, es wäre alles nur ein böser Traum gewesen. Bis sie dann Selbstmord beging und der Fall wiederaufgenommen wurde. Das würde erklären, wieso er sich so merkwürdig verhalten hat. Stellen Sie sich mal vor, Sie wachen eines Morgens auf und erinnern sich, dass Sie ein junges Mädchen erdrosselt haben. Man bräuchte schon ein paar Drinks, um darüber hinwegzukommen.»
    «Sie haben wohl zu viel Nachmittagsfernsehen geschaut», sagte Vera. «Diese Talkshows, in denen Psychologen hirnlos daherfaseln. An eine solche Amnesie glaube ich nicht. Das wäre zu bequem. Außerdem hat er an dem Sonntag von Abigails Tod das Haus nicht verlassen. Das haben alle gesagt.»
    «Glauben Sie, dass die das noch wissen? Nach zehn Jahren? Und hätten sie es überhaupt gemerkt, wenn er rausgeht?»
    Sie stellte sich den Grundriss von Springhead House vor. Es gab eine Tür, die vom Hof in die Küche führte und die die Winters für gewöhnlich benutzten, aber am Fußende der Treppe gab es noch eine zweite, die in einen kleinen ummauerten Garten führte. Das Haus war alt und hatte dicke Wände. Sie hätten es nicht gehört, wenn er hinausgegangen wäre.
    Sie sah den Jungen vor sich, schmal und schmächtig, so wie auf dem Foto, das in Springhead House im Flur hing, wie er gegen den Wind zwischen den Feldern zum Haus der Mantels lief. Hatte er Abigail nachspionieren wollen? Sie beobachten, wie sie in ihrem Zimmer neueKlamotten anprobierte oder sich das Haar bürstete? Oder vielleicht hatte sich das Mädchen ja gelangweilt, wieder einmal allein gelassen vom Vater. Vielleicht hatte sie sich auf den Weg zu den Winters gemacht, um Publikum zu finden. Und auf halber Strecke waren sie einander begegnet.
    Er war ein komischer Junge gewesen. Das sagten alle. In sich gekehrt. Besessen. Vera malte sich aus, wie er sich dem Mädchen in den Weg stellte.
    Ich muss mit dir reden.
    Was willst du?
    Ich muss immer an dich denken.
    Was?
Als würde der Gedanke sie anwidern. Tief in ihrem Innern fühlte sie sich geschmeichelt, aber das merkte er nicht.
    Vielleicht versuchte sie, sich an ihm vorbeizuschieben, und er hielt sie an der Schulter fest, wollte sie jetzt um keinen Preis gehen lassen, wollte ihr alles erklären. Und erregt von der Berührung, ließ er sie nicht wieder los.
    Verpiss dich, du kleiner Scheißer.
    Aber er, kräftiger, als er aussah, drehte sie zu sich herum und legte die andere Hand um ihren Hals, beinahe zärtlich. Sie schrie, er solle sie loslassen, warf ihm alles Mögliche an den Kopf, Ausdrücke, die einen wohlerzogenen Jungen schockieren mussten. Und er zog den Schal um ihren Hals zu, dachte nur daran, sie zum Schweigen zu bringen, aber er konnte nicht aufhören, selbst als ihm klarwurde, was er da tat.
    Das Rumpeln eines Müllwagens aus East Riding, der im Regen zu einem undefinierbaren Gebilde verschwamm, brachte sie zurück in die Gegenwart. Sie schüttelte den Kopf, um das grauenhafte Bild loszuwerden.
    «Ich kann mir schon vorstellen, dass Christopher sieumgebracht hat», meinte sie. «Dass sie ihn dazu getrieben hat, so wie Sie es gesagt haben. Aber danach die ganze Sache vergessen? Nein, das glaube ich einfach nicht.»

Kapitel dreiundzwanzig
    Schweigend fuhren sie nach Springhead House. Vera dachte unablässig an die Winters und daran, wie es für Emma und Christopher gewesen sein musste, dort aufzuwachsen. Es grenzte fast schon an Märchenerzählen, dachte sie, dieser Versuch, die Vergangenheit wiederaufleben zu lassen. Aber wie sollte sie sonst vorgehen? Auf die Erinnerungen der Beteiligten konnte sie sich nicht verlassen. Selbst wenn sie meinten, ihr die Wahrheit zu erzählen, gab es da doch Lücken nach all der Zeit, Erinnerungssplitter, die sich mit den Erzählungen über die Jahre verändert hatten.
    Sie blieben einen Augenblick lang vor dem Haus stehen. Der alte Hof war leer. Roberts Auto war nicht da, um etwas Schutz vor dem Wetter zu bieten.
    «Ein trostloser Ort», sagte Ashworth. «Man kann verstehen, dass der Junge nicht gern nach Hause kam. Wie sind die Eltern eigentlich so?»
    «Anständige Leute. Arbeiten hart. Wenigstens nach außen hin. Bei Familien weiß man ja nie, nicht wahr, alter Knabe?» Sie sah spitzbübisch zu ihm hinüber. Was Familien anging, war er der Experte.
    Vera klopfte an die Küchentür

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