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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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ihr zuhörte. Er war mit ganz anderen Dingen beschäftigt.»
    «Ein armes kleines reiches Mädchen also.»
    «Ja, irgendwie schon. Vielleicht war sie einsam, und deswegen hat sie sich mit mir abgegeben.»
    «Können Sie mir sagen, mit wem sie sonst noch befreundet war?»
    «Es ist komisch, aber da gab es wirklich niemanden sonst. Nicht, nachdem ich aufgetaucht war. Zumindest keine Mädchen. Keine von denen schien ihr der Mühe wert zu sein. Damals hat mir das geschmeichelt.»
    «Und Jungs?»
    «Es gab einen Jungen. Nick Lineham. Sein Vater war Konrektor an unserer Schule. Er war ein paar Jahre älter als wir, und sie hat wie verrückt für ihn geschwärmt.»
    «Könnte er ihr Freund gewesen sein?»
    «Dann verstehe ich nicht, warum sie mir das nicht erzählt haben sollte.»
    «Wohnt er noch hier in der Gegend?»
    «Er unterrichtet Englisch an der Abendschule in der Stadt. Wir haben nach der Schule Kontakt gehalten, rufen uns gelegentlich an, Sie kennen das ja. Als Abigail noch lebte, hat er mich überhaupt nicht wahrgenommen, abervielleicht habe ich ihm dann leidgetan. Oder er dachte, dass wir etwas gemeinsam haben. Er hat mir einen Job an der Abendschule besorgt. In der Erwachsenenbildung. Ich habe Sprachen unterrichtet.»
    Vera spürte etwas Sehnsüchtiges in Emmas Stimme und fragte sich, was dahintersteckte, der Mann oder die Arbeit. Sie goss den löslichen Kaffee auf und trat an den Tisch. Sie hatte sich jetzt lange genug zurückgehalten. «Gestern Abend sagte Ihr Mann, Christopher wäre betrunken gewesen, als er hier war. Betrunken und völlig aufgelöst. Hätte vielleicht einen Zusammenbruch gehabt. Was glauben Sie, worum es da ging?» Sie zog einen Stuhl hervor und setzte sich schwerfällig. Es war ein alter Holzstuhl mit geschwungener Lehne und ohne Polster. Wenn sie sich bewegte, knarrte er.
    «Ich glaube, dass Christopher alles viel zu sehr dramatisiert hat, er hat maßlos übertrieben. Vielleicht war er ja wirklich in Abigail verknallt, als er vierzehn war. Na und? An dem Abend hat er mir gesagt, er wäre ihr überallhin gefolgt, wie ein jugendlicher Stalker, aber ich verstehe nicht, warum er so ein Brimborium darum gemacht hat. Wenn er sich jeden Tag auf den Bohnenfeldern rumgetrieben hätte, hätten wir das bemerkt. Wie Sie schon sagten, die Gegend hier ist total flach. Man kann sich nirgends verstecken. Und ich wüsste nicht, dass er sich in jenem Sommer verändert hätte. Er hat sich immer noch mit seinem Kram beschäftigt – Naturkunde und Astronomie. Wenn er sich wirklich vor Sehnsucht verzehrt hat, dann hat er das ziemlich diskret gemacht.»
    «Was hat Christopher dann so aufgewühlt?», wollte Vera wissen. «Könnte es Jeanie Longs Selbstmord gewesen sein?»
    «Vielleicht. Obwohl er sie, meine ich, gar nicht gekannthat. Wie auch?» Emma zögerte. «Ich glaube, der ganze Rummel um den Jahrestag von Abigails Tod hat ihm eine willkommene Ausrede geliefert. Es ging ihm erbärmlich. Vielleicht hat ihm irgendeine Frau den Laufpass gegeben. Vielleicht lief es nicht gut bei der Arbeit. Also hat er seine pubertären Phantasien über Abigail wiederaufleben lassen und sich eingeredet, dass sie der Grund für seine Depressionen ist.»
    Das Wimmern des Babys hatte sich zu einem Jammern gesteigert, das Vera völlig fertigmachte. «Er braucht wahrscheinlich frische Windeln», sagte Emma. «Ich muss ihn holen. Gibt es noch etwas?»
    «Im Augenblick nicht, Herzchen.» Vera war froh, einen Vorwand zu haben, um zu gehen.
     
    «Glauben Sie, dass ihr Bruder verrückt war?» Sie saßen im Wagen, vom Rest des Dorfes abgeschnitten durch den Regen, der waagerecht gegen die Windschutzscheibe prasselte. Ashworth saß auf dem Fahrersitz und wartete auf Anweisungen. Die Frage kam aus dem Nichts. Er hatte nicht darüber nachgedacht. Er hatte den Mund aufgemacht, und da war sie herausgekommen.
    «Ich weiß nicht», sagte Vera. «Depressiv, vielleicht.»
    «Glauben Sie nicht   …» Er zögerte.
    «Na los, Herzchen. Spucken Sie’s aus.»
    «Könnte nicht er das Mädchen umgebracht haben? Wenn er wirklich von ihr besessen war, egal, was seine Schwester sagt. Er war besessen und hat das Ganze wie ein sündiges Geheimnis für sich behalten. Vielleicht hat sie ihn ja aufgezogen, verspottet, und da ist er eben durchgedreht.»
    «Und dann ist er nach Hause gegangen und hat so getan, als wäre nichts passiert?»
    Anfangs, als sie begonnen hatten, miteinander zu arbeiten,wäre für Ashworth an dieser Stelle Schluss gewesen. Aber

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