Opferschuld
verstummte, doch Vera wartete ab. Das war genau das, was sie brauchte. Eine Vorstellung von dem Haushalt, in dem Christopher aufgewachsen war.
Und Mary sprach auch schon weiter: «Ich gebe Robert nicht die Schuld dafür, dass wir so steif miteinander umgehen, darum geht es mir wirklich nicht. Genau genommen ist Robert sogar geselliger als ich. Erst letzte Woche hat er vorgeschlagen, zu meinem fünfzigsten Geburtstag ein Fest zu feiern. Die ganze Familie einzuladen, und Freunde. Normale Menschen würden genau so was machen, nicht wahr? Als wir noch in York wohnten, haben wir oft Partys gegeben, sind ausgegangen, haben mit Freunden gegessen. In der Stadt ist das natürlich ganz anders. Vielleicht bin ich ja menschenscheu geworden, aber die Vorstellung, hier so eine Feier zu veranstalten, hat mir Angst eingejagt.» Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. «Jetzt habe ich wohl eine Entschuldigung, um es abzusagen.» Kaum waren die Worte heraus, da schaute sie hoch, das Gesicht schreckverzerrt.«Wie furchtbar, so etwas zu sagen. Wie konnte ich nur? Ich würde tausend Partys durchstehen, wenn ich Christopher damit wieder lebendig machen könnte.»
«Ich weiß», sagte Vera. «Ich weiß.»
Geistesabwesend ging Mary zum Herd. Sie hob den Deckel hoch und hievte einen gewaltigen Kessel auf die heiße Platte. «Ich mache uns einen Tee, ja? Sie trinken doch einen Tee?»
«Können wir uns mit Ihnen über gestern unterhalten?», fragte Vera.
«Natürlich. Ich fühle mich so hilflos. Wenn ich Ihnen wenigstens mit Ihren Fragen helfen kann …»
«Wussten Sie, dass Christopher vorhatte, nach Elvet zu kommen?»
«Nein. Aber das war nicht ungewöhnlich. Manchmal ist er einfach so vorbeigekommen, aus heiterem Himmel. Vielleicht hatte er die Gabe der Spontaneität ja nicht verloren. Ich habe mich immer gefreut, ihn zu sehen, aber ich hätte nicht gewollt, dass er es als ein Muss betrachtet, als eine Verpflichtung.»
Vera erinnerte sich, dass Michael Long etwas Ähnliches gesagt hatte.
Kinder schulden ihren Eltern nichts.
Nachdem Christopher einmal aus dem Haus war, blieb Mary also nichts übrig, als geduldig und still darauf zu warten, dass ihr Sohn aus einer Laune heraus vorbeischneite.
«Sie müssen ihn vermisst haben. Es war ja nicht wie bei Emma, die ein paar Straßen weiter wohnt.»
«Das habe ich», sagte Mary. «Sehr.»
«Wer hatte die Idee, zu der Benefizveranstaltung zu gehen?»
«Das war Robert. Er hatte sich ganz kurzfristig dazu entschlossen. Ich glaube, er hat gemerkt, dass wir alle eine Aufheiterung brauchten. Das Wetter ist so deprimierend.Irgendwann macht es einen fertig. Und Emma war seit Matthews Geburt nicht mehr aus dem Haus gekommen.»
«Waren Sie mit Mr Mantel befreundet?»
«Befreundet? Nein!» Der Gedanke kam ihr offenbar völlig abwegig vor.
«Ihre Töchter waren einmal eng miteinander befreundet. Es hätte sein können, dass Sie sich damals auch privat kennengelernt haben.»
«Nein, er hat doch immer so viel zu tun. Und er ist ja auch etwas Besseres, mit dem schicken Haus und seinem blankpolierten Auto. Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns viel zu sagen gehabt hätten. Man kannte sich und hat sich gegrüßt. Bei Dorffesten sind wir ihm über den Weg gelaufen. Aber da herrschte immer so eine Verlegenheit. Ich weiß, es ist lächerlich, aber ich habe mich immer schuldig gefühlt, wenn wir uns gesehen haben.»
«Weil Ihre Tochter am Leben war und seine nicht?»
Sie sah dankbar hoch. «Ja, genau.» Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann fügte sie hinzu: «Jetzt, wo wir beide den Verlust eines Kindes erlitten haben, wäre es vielleicht anders.»
Plötzlich fing der Kessel an zu pfeifen. Das Geräusch war unerträglich, und Vera musste an sich halten, um nicht aufzuspringen und ihn vom Herd zu nehmen. Einen Augenblick lang schien Mary es überhaupt nicht zu hören. Schließlich stand sie auf und goss das heiße Wasser in die Kanne.
«Können Sie uns den Ablauf des gestrigen Abends schildern?», fragte Vera, als Mary sich wieder an den Tisch gesetzt hatte. «Von da an, wo Sie zur Alten Kapelle gekommen sind, wenn es Ihnen nichts ausmacht.»
«Wir haben wie alle anderen an der Zufahrt geparkt und sind um das Haus herumgegangen. Da standen die Leuteschon Schlange und warteten darauf, Keith und seine junge Freundin zu begrüßen. Wie auf einer Hochzeit, wo das Brautpaar am Eingang des Festsaals steht, um die Gäste zu empfangen. Wie bei königlichen Hoheiten.»
«Sie klingen, als könnten
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