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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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und war überrascht, als Mary ihnen aufmachte. Sie trug einen grauen Trainingsanzug und eine vom vielen Waschen verfilzte Strickjacke. Mary war über Nacht gealtert, in sich zusammengefallen.
    «Was ist los? Gibt es was Neues?» Vera konnte nicht erkennen, ob sie sich an diese Möglichkeit klammerte oder ob sie Angst hatte, dass sie noch schlimmere Nachrichten für sie hatten.
    «Noch nicht, Herzchen.» Sie schwieg kurz. «Wo ist Linda?» Linda war die Polizistin, die über Nacht geblieben war.
    «Ich habe sie weggeschickt. Sie war sehr nett, aber manchmal muss man einfach allein sein.»
    «Und Robert?», fragte Vera vorsichtig.
    «Er ist in der Kirche.» Mary trat beiseite, um sie hereinzulassen. «Ich habe ihm gesagt, er soll gehen. Er konnte keine Ruhe finden. Die ganze Nacht habe ich ihn im Haus herumlaufen gehört. Ich dachte, vielleicht findet er dort etwas Frieden. Aber er müsste langsam wieder hier sein. Deshalb bin ich so erschrocken, als Sie geklopft haben.»
    Vera sagte nichts. Ihr Vater hatte sie in dem Glauben erzogen, dass der Atheismus den einzig vernünftigen Standpunkt darstelle, und das zu einer Zeit, in der all ihre Freunde zur Sonntagsschule gingen. Sie hatte die anderen beobachtet, wie sie vom Gemeindesaal nach Hause bummelten und dabei ihre bunten Bildchen umklammert hielten, mit den Jüngern beim Fischen und Jesus, der auf dem Wasser geht, und sie hatte sich gewünscht dazuzugehören. Die Kirche war eine verbotene Verlockung, der einzige Ort in ihrer Kleinstadt, wo alle zusammenkamen. Abgesehen vom Pub. Einmal hatte sie sich beim Erntedankfest hineingeschlichen, und das Brausen der Orgel, der Gesang, die Farben der Buntglasfenster und die aufgestapelten Feldfrüchte hatten ihr gefallen. Aber sie verstand nicht, was Robert in einem solchen Moment in der Kirche suchte. War nicht das eine düstere Gebäude so gut wie das andere? Sollte er nicht besser hier sein und seine Frau trösten?
    Mary schien ihre Missbilligung zu spüren, jedenfalls hob sie zu einer Erklärung an: «Er ist ganz aufgelöst und wütend. Es ist eine Zeit der Prüfung.»
    «Für Sie beide.»
    «Der Glaube hat ihm immer mehr bedeutet als mir.» Sie hielt inne und fuhr dann hastig fort: «Er tut so viel Gutes hier. Im Dorf. Mit seiner Arbeit. Es wäre schrecklich, wenn er das nicht mehr könnte. Es war schon immer meine Rolle, ihn dabei zu unterstützen.»
    Vera hätte das gern weiterverfolgt, aber sie wusste nicht, welche Fragen sie stellen sollte. Das hier ging über ihren Horizont. Sie wollte sagen:
Sie sind doch eine intelligente Frau, und er ist ein erwachsener Mann. Warum kann nicht er Sie bei Ihrer Arbeit unterstützen?
Aber sie wollte Mary nicht kränken. Sie sah Ashworth an. Auch ihm schien der Gedanke an den Glauben unbehaglich zu sein.
    «Hat er Christopher sehr nahegestanden?», fragte sie schließlich. «Seinem einzigen Sohn?»
    Diese Wendung kam ihr vage bekannt vor, aber sie dachte nicht weiter darüber nach und fragte sich, wieso Mary sie so merkwürdig ansah.
    «Robert war natürlich stolz auf Christopher.» Ihre Stimme klang klar und bestimmt. Worte waren ihr wichtig. «Er war so ein kluges Kind, immer gut in der Schule, ohne sich groß anzustrengen. Aber ich glaube nicht, dass sie sich wirklich nahegestanden haben. Nein. Nicht wie manch andere Väter und Söhne.» Sie hielt inne, um ihre Gedanken zu sammeln, und als sie fortfuhr, klang ihre Stimme wehmütig. «Ich arbeite in einer Bücherei. Wir sind dort fast nur Frauen, und die anderen reden immer von ihren Familien. Ich höre, was sie von ihren Männern erzählen, die die Söhne zum Fußball oder zum Angeln mitnehmen, oder später dann in den Pub. So eine Familie sind wir nicht. Wirgehen nicht so ungezwungen miteinander um. Verstehen Sie? Vielleicht war das ja das Opfer, das wir alle bringen mussten. Für Roberts Arbeit. Die kam an erster Stelle. Für die Kinder war es hart.»
    «Aber James und Emma und Ihr Enkelkind, die sehen Sie doch regelmäßig.» Vera spürte das Bedürfnis, sie zu beruhigen.
    «O ja, und das ist wunderbar! Ein solcher Segen! Sonntags essen wir immer zusammen zu Mittag.» Sie schwieg und fügte dann traurig hinzu: «Aber das ist eher förmlich. Im Spontansein sind wir nicht sonderlich gut, wir gehen alle sehr vorsichtig miteinander um. Vielleicht kommt das ja durch Abigails Tod. Wenn man weiß, dass das Unglück jeden Augenblick zuschlagen kann, will man nicht streiten. An jenem Nachmittag hatten wir uns gestritten   …» Sie

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