Opferschuld
zu tragen.
«Wie hat sie sich hier eingefügt?»
«Gar nicht. Nicht in die Gemeinschaft der anderen Frauen. Lebenslängliche haben hier oft einen gewissen Berühmtheitsstatus. Nicht, dass alle auf Schauergeschichten aus wären. Es hat mehr mit dem öffentlichen Interesse an einem Fall zu tun als mit der Art des Verbrechens. Die Lebenslänglichen fühlen sich davon schnell geschmeichelt, und es kann das Leben hier drinnen leichter machen. Jeanie hat sich geweigert, diese Rolle zu spielen. Sie sprach nur über die Tat, um ihre Unschuld zu beteuern.»
«Gab es jemanden, dem sie nahestand?»
«Wie ich schon sagte, keiner von den Frauen hier. Vor einem Jahr haben wir eine neue Geistliche eingesetzt, und vor ihr schien Jeanie Achtung zu haben.»
«Was ist mit den Wärterinnen? Den Lehrerinnen?»
«Nein. So ein Gefängnis funktioniert nach dem Prinzip des Einverständnisses. Die Straftäter erkennen ihre Schuld an und das Recht der Behörden, ihr Leben zu regeln. Jeanie hat das nie getan. Sie zweifelte an allem, stellte alles in Frage. Damit hat sie sich unbeliebt gemacht. Das Niveau einer Ausbildung im Gefängnis, vor allem in einem Gefängnis wie diesem, in dem nur wenige der Frauen lange Haftstrafen verbüßen, ist zwangsläufig relativ niedrig. Jeanie konnte sehr herablassend sein, fast schon grob. Sie war besser ausgebildet als die meisten Lehrerinnen und hat damit nicht hinterm Berg gehalten.»
«Wie ist sie mit ihrem Bewährungshelfer ausgekommen?»
«Sie hatten nicht viel Kontakt. Die Bewährungshelfer sollten eigentlich ständig mit den Inhaftierten in Verbindung stehen, aber oft haben sie Dringenderes zu tun. Nach Jeanies Tod habe ich mir den Bericht des Bewährungshelfers angeschaut, und Robert Winter war offenbar sehr anständig. Er hat sie ermuntert, das Richtige zu sagen undzu tun. Er hat ihren Vater besucht, in der Hoffnung, ein Zuhause für sie zu finden, einen Ort, wo sie nach ihrer Entlassung Halt findet. Ich fürchte, Mr Long war nicht sehr hilfreich.»
«Long glaubte, dass sie das Mädchen umgebracht hatte und verdientermaßen hier war.»
Der Direktor schien nicht weitersprechen zu können. Vera hätte ihm am liebsten etwas Leben eingeprügelt. «Wussten Sie, dass Mr Winter indirekt mit dem Mantel-Fall zu tun hatte? Seine Tochter hat die Leiche des Mädchens gefunden.»
«Nein.» Der Direktor sah schockiert aus. «Aber ich habe ja auch nie mit ihm gesprochen. Ich hatte keinen Grund dazu. Mit den Sozialarbeitern hier vor Ort habe ich natürlich regelmäßig Kontakt, mit den externen aber nicht.»
«Wann hat er Jeanie das letzte Mal besucht?»
Der Direktor streckte die Hand aus und zog eine Akte aus einem ordentlichen Stapel auf dem Tisch unter dem Fenster, doch Vera hatte den Eindruck, dass er die Antwort schon wusste.
«Drei Tage vor ihrem Tod.»
Die Geistliche hatte ein kleines Büro hinter der Kapelle. Normalerweise, sagte der Direktor, wäre sie um diese Zeit schon gegangen, aber sie habe extra gewartet, um mit Vera zu sprechen. Er rief eine Wärterin, die Vera begleiten sollte, eine freundliche junge Frau, die die Gefangenen in dem Flügel mit Namen ansprach. Es war Abendbrotzeit, und die Frauen hatten sich im Korridor in einer unordentlichen Schlange aufgereiht, um sich das Essen aus einer Durchreiche zu holen. Ein dürres Mädchen mit ungekämmtem Haar und Schnittwunden an den Handgelenken sang vor sich hin. Irgendetwas Lautes und Aggressives. Niemand be achtete sie.
Jeanie hätte jetzt auch hier gestanden,
dachte Vera.
Unnahbar und ohne jeden Freund.
«Kannten Sie Jeanie Long?», fragte sie die Wärterin.
«Ja.»
«Was haben Sie von ihr gehalten?»
Die Frau zuckte die Schultern. «Nicht viel, um ehrlich zu sein. Sie dachte, sie wäre was Besseres als die anderen hier. Und sie hat den Direktor um den kleinen Finger gewickelt. Nicht, dass das allzu schwierig wäre. Der fällt auf alle rührseligen Geschichten rein.»
Die Wärterin merkte, dass sie indiskret gewesen war, und sie gingen schweigend weiter durch die drängelnden, neugierigen Frauen.
Die Geistliche war sehr klein. Unter einer quietschbunten Strickjacke trug sie einen weißen Rollkragenpullover aus Nylon, der für den Halskragen sorgen sollte, und dazu eine rote Cordhose. Sie kochte Tee für Vera.
«Einige kommen nur dafür zu mir», sagte sie. «Für Tee in einer Porzellantasse und Kekse. Aber das macht mir nichts. Es ist ja nicht zu viel verlangt, oder?»
«Weshalb ist Jeanie Long gekommen?»
«Sie
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