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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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wir alle. Ich dachte, es würde uns Spaß machen.»
    «Und Sie hatten nicht erwartet, Christopher dort zu sehen?»
    «Absolut nicht. Ich war mir sicher, dass er geradewegs nach Aberdeen zurückgefahren ist. Das war rücksichtslos von ihm – er wusste, wie sehr sich seine Mutter über seine Besuche freut   –, aber nicht untypisch.»
    Ganz plötzlich schien er die Geduld mit der Fragerei zu verlieren. «Gibt es noch etwas Dringendes, Inspector? Etwas, das nicht warten kann? Meine Frau ist nun schon sehr lange allein. Wie Sie selbst sagten. Ich denke wirklich, ich sollte jetzt nach Hause fahren.» Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf und ging hinaus. Durch das Fenster sahen sie ihn mit energischen Schritten davongehen. Eine ältere Frau eilte zu ihm hin, erkennbar erschüttert, um ihm ihr Beileid auszusprechen. Er blieb stehen, beugte sich zu ihr hinab und ergriff mit beiden Händen ihre Rechte. Dann lief er weiter zu seinem Auto.
    «Ich frage mich», sagte Vera langsam, «wieso ich ihn rein gar nicht ausstehen kann.»
    «Wegen der Religion?», schlug Ashworth vor. «Das war ja noch nie Ihr Ding.»
    «Kann sein. Aber ich möchte, dass Sie sich eine Liste mit allen Leuten besorgen, die gestern Abend bei Mantel waren, und dass Sie mit allen reden. Hat irgendjemand gesehen, wie Robert Winter vom Lagerfeuer weggegangen ist? Hat ihn irgendwer auf dem Zufahrtsweg gesehen?»
    «Und was haben Sie vor?»
    «Ich?», fragte sie. «Ich fahre jetzt zum Gefängnis. Wo Jeanie Long die letzten zehn Jahre verbracht hat. Es gibt schließlich noch ein weiteres Opfer in dieser ganzen Geschichte. Und ich habe das Gefühl, nicht das Geringste über sie zu wissen.»

Kapitel fünfundzwanzig
    Vera parkte auf dem für Besucher ausgewiesenen Platz. Er war fast leer. Der Parkplatz für das Personal lag näher am Eingang, aber davor war eine Schranke, die vom Pförtnerhäuschen aus bedient wurde. Es gab Tage, da hätte es ihr diebischen Spaß gemacht, den Summer zu drücken und zu verlangen, dass man sie reinfahren ließ, aber heute war sie nicht in Stimmung für einen Kampf.
    Sie hatte vorher angerufen und wurde erwartet. Sie hatte darum gebeten, mit den Personen zu reden, die Jeanie gut gekannt hatten, und war überrascht, als sie direkt ins Büro des Gefängnisdirektors geführt wurde. Doch sie glaubte zu wissen, was es damit auf sich hatte. Ein Selbstmord in Haft war eine heikle Sache. Wahrscheinlich gab es da Statistiken. Bestimmt wollte er ihr klarmachen, dass seine Institution nicht verantwortlich war, dass alle Richtlinien buchstabengetreu befolgt worden waren. Doch als sie den Mann sah, erkannte sie gleich, dass sie ihn falsch eingeschätzt hatte. Er stand am Fenster und sah auf einen Hof aus Beton hinunter, in dem es inmitten hoher Mauern schon dunkel war. Eine Gruppe Frauen wartete dort, sie stampften mit den Füßen auf und riefen sich etwas zu,während eine Wärterin an einem Gebäude die Tür zusperrte und dann um sie herumging, um die Tür eines anderen Gebäudes aufzuschließen.
    «Das ist der Ausbildungstrakt», sagte der Direktor. «Jeanie hat eine Menge Zeit dadrinnen verbracht. Ich dachte, es würde ihr helfen, sie würde es als eine sinnvolle Art sehen, die Zeit hier zu nutzen. Aber ich habe mich wohl geirrt.»
    «Sie hielten sie also nicht für selbstmordgefährdet?»
    Er drehte sich wieder ins Zimmer. «Nein. Aber ich war nicht überrascht, als es dann passierte. Ich fühle mich verantwortlich. Ich hätte es kommen sehen müssen.»
    «Sie haben sehr viele Frauen in Ihrer Obhut.» Das war als Feststellung gemeint, nicht als Entschuldigung, aber er wies den Gedanken von sich, schüttelte den Kopf.
    «Keine von denen war so lange hier drinnen wie Jeanie. Es war eine schreckliche Verschwendung. Sie hat nie ein Sicherheitsrisiko dargestellt. Wenn sie das Richtige gesagt hätte, hätte sie schon vor Jahren in den offenen Vollzug verlegt werden können.»
    «Aber sie hat sich geweigert mitzuspielen?»
    «Ich glaube, sie war einfach nicht fähig zu lügen», sagte er. «Ich arbeite nun schon seit zwanzig Jahren im Gefängniswesen, aber jemandem wie ihr bin ich noch nicht begegnet.»
    «Sie haben ihren Verteidigern also geglaubt?»
    «Jeanie Long hat niemanden umgebracht», sagte er bestimmt. «Das wusste ich schon, als ich sie das erste Mal sah.»
    Vera hatte den Eindruck, dass er ein bisschen in sie verliebt gewesen war – und dass er eigentlich zu leicht in Rührung geriet, um die Verantwortung für ein Frauengefängnis

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