Opferschuld
sich später dafür zu verachten, dachte Vera.
«Und?»
«Sie haben doch gesehen, wie Fletcher ist. Knallhart. Nach außen zumindest. Und Dan war sensibler, als gut für ihn war. Konnte die Spielchen nicht ab, die man mitmachen muss, um nach oben zu kommen. Er ist einfach gestrickt. Nicht dumm, das meine ich nicht. Aber geradeheraus. Mag keine Tricks. Keinen Small Talk.» Voller Leidenschaft, dachte sie. Deswegen kannst du die Augen nicht von ihm lassen. Wegen seiner Ausstrahlung. Dann fragte sie sich, ob sie jetzt vollkommen bescheuert war.
«Hat er deshalb den Dienst quittiert? Weil er mit ihr aneinandergeratenist? Man sollte meinen, er hätte eine Versetzung erreichen können.»
«Er hatte einen Nervenzusammenbruch», sagte sie. «Vom Stress. Er ist mir schon immer ein bisschen nervös vorgekommen, konnte nie still sitzen. Er hat den Dienst aus gesundheitlichen Gründen quittiert, kurz nachdem Jeanie Long hinter Gitter kam. Später ist er dann nach Elvet gezogen und hat sich die Töpferei da drüben am Platz eingerichtet.»
«Und der Mantel-Fall hat ihn krankgemacht? Ich hätte nicht gedacht, dass sie damals so schlimm unter Druck standen. Die Presse wird natürlich pausenlos hinter ihnen her gewesen sein, aber sie haben den Fall doch auch schnell aufgeklärt, finden Sie nicht?»
Sie wusste genau, dass er jetzt an ein paar Fälle dachte, die er bearbeitet hatte. Fälle, die sich monatelang hingezogen hatten, bei denen er tagelang keinen Schlaf bekommen und seine Familie nicht gesehen hatte und die am Ende ungeklärt geblieben waren.
«Er hat nie geglaubt, dass Jeanie schuldig war», sagte Vera. «Aber er hatte damals nicht den Mumm, einen Aufstand zu machen.»
«Dann gibt er sich jetzt also die Schuld an ihrem Selbstmord?»
«Gut möglich.»
«Woher kennen Sie ihn eigentlich?»
«Wir sind uns ein paarmal begegnet, bei Schulungen und Weiterbildungen. Dann hat so ein Kerl aus Wooler die Bewährungsauflagen verletzt und ist abgehauen und schließlich hier gelandet. Ich war für ein paar Tage hier. Ich mochte Dan. Fand ihn auf Anhieb sympathisch. Wie gesagt, er ist überhaupt nicht eingebildet. Ohne Hintergedanken. Er hat mich angerufen, bevor er den Dienstquittiert hat. Sie hatten ihm einen Handel angeboten, und da hat er mich um Rat gefragt.»
«Und was haben Sie ihm gesagt?»
«Dass wir Leute brauchen, denen der Job was bedeutet, aber wenn ihn das krankmacht, soll er nehmen, was er kriegen kann, und sich aus dem Staub machen.»
«Warum dachte er, dass Jeanie Long unschuldig war?»
«Er war bei den Vernehmungen dabei. Er hat ihr geglaubt.»
«Und das war alles?»
«Es gab keine gerichtsmedizinischen Beweise. Und laut Dan ist alles wirklich sehr schnell über die Bühne gegangen. Mühelos. Als wäre es abgesprochen gewesen. Als hätte jemand die Fäden gezogen.»
«Und Sie glauben, dass Mantel dahintersteckte?»
«Wenn man einen trauernden Vater hat, der mit dem Finger auf jemanden zeigt und sagt, er weiß, wer seine Tochter umgebracht hat, kann man das nicht so leicht ignorieren. Vor allem, wenn er es in aller Öffentlichkeit sagt. Und wenn er eine wichtige Rolle im Ort spielt. Freunde hat, die Richter sind oder im Polizeiausschuss sitzen.»
«Also hatten alle ein Interesse daran, dass der Fall schnell aufgeklärt wird.»
«Alle außer Jeanie Long.»
«Was für Fäden soll Mantel denn genau gezogen haben?»
Vera schob sich ein halbes Stück Käsekuchen in den Mund. «Das werden wir ihn wohl selbst fragen, was? Aber das muss warten. Da kommt gerade Robert Winter aus der Kirche.»
Als sie ihn erreichten, stand Winter immer noch im Kirchenportal. Er wollte wohl den Pfad hinunter zum Tor gehen, schien aber von einer unsichtbaren Kraft zurückgehaltenzu werden. Der Pfad lag voll nassem Laub, und an einer Stelle wäre Ashworth beinahe ausgerutscht, doch Winter ließ nicht erkennen, ob er sie kommen sah. Er starrte in die kahlen Bäume hinauf, die den Kirchhof säumten.
«Ihre Frau wird sich Sorgen um Sie machen», sagte Vera.
Erst da würdigte Robert ihre Anwesenheit mit einem höflichen Nicken. Auf das, was sie gesagt hatte, ging er jedoch nicht ein.
«Wir waren gerade bei Ihnen zu Hause. Mary hat Sie schon erwartet. Hier, rufen Sie sie an.» Vera kramte in ihrer Tasche nach dem Handy. «Sagen Sie ihr, dass wir noch kurz mit Ihnen sprechen wollen, dass Sie aber bald zu Hause sind.»
«Ja», sagte Robert. «Natürlich. Das war gedankenlos von mir.» Er nahm das Handy, trat nun doch vom Portal
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