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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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sagte, weil sie eine intelligente Unterhaltung und eine Pause von dem Lärm in ihrem Flügel brauche.»
    «Das klingt doch vernünftig.»
    «Mag sein. Aber auch ziemlich arrogant. Sie war kein Mensch, den man auf Anhieb mochte, Inspector. Sie hat geglaubt, sie sei anders als die anderen Frauen. Sie dachte gar nicht daran, ihnen eine Chance zu geben.»
    «Sie war unschuldig», sagte Vera und versuchte, ihre Wut zu unterdrücken. «Dadurch war sie anders. Wie oft haben Sie sie gesehen?»
    «Einmal die Woche, freitagmorgens. Als ich hier anfing, bat mich der Direktor, mit ihr zu reden. Er sagte, es seieine schwere Zeit für sie. Mit ihrer Wärterin kam sie gar nicht aus. So ist es bald zu den wöchentlichen Treffen gekommen. Ich bin mir nicht sicher, was sie tatsächlich davon hatte.»
    «Worüber haben Sie gesprochen?»
    «Nicht über Religion», sagte die Geistliche rasch. «Sie hat von Anfang an klargemacht, dass das ein Tabuthema ist. ‹Meine Mutter hat an den ganzen Scheiß geglaubt, und schauen Sie, was es ihr gebracht hat.› Sie war auf der Hut vor allem, was sie hätte verlocken können, von ihrem Kampf abzulassen. Als müsste sie wütend bleiben, um ein inneres Versprechen zu halten. ‹Es wäre so leicht nachzugeben›, hat sie einmal gesagt. ‹Loszulassen.› Die einzigen Gelegenheiten, wo ich sie je habe loslassen sehen, waren, wenn sie über Musik sprach. Dann wurde sie ein ganz anderer Mensch, liebenswürdiger und entspannter.»
    «Haben Sie auch über den Mantel-Fall gesprochen?»
    «Sie schon. Bei jeder Gelegenheit. Mir war nicht wohl dabei. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Ich wollte keine falschen Hoffnungen wecken. Es hatte ja schon ein Berufungsverfahren gegeben, bald nach dem ersten Urteil, aber das ist im Sande verlaufen. Es gab keine neuen Beweise. Ich hätte nicht geglaubt, dass der Fall je wiederaufgenommen wird. Und natürlich dreht sich in meiner ganzen Ausbildung und in meinem Glauben alles darum, das eigene Fehlverhalten einzusehen. So wird auch dieses Gefängnis geführt. Das ist die Voraussetzung, damit man rehabilitiert werden kann.»
    «Sie haben also geglaubt, dass sie das Mädchen umgebracht hat?» Was für ein scheinheiliger Quatsch, dachte Vera.
    «Ich bin naiv. Ich habe nicht geglaubt, dass ein Gericht sich dermaßen irren könnte. Ich dachte, vielleicht hat siesich selbst eingeredet, dass sie unschuldig ist, weil sie sich dem Grauen ihrer Tat nicht stellen konnte. Und es hätte ja auch sein können, dass sie mich manipulieren wollte, dass sie mich angeschwindelt hat.»
    «Hat sie jemals etwas Konkretes unternommen, um ihren Namen wieder reinzuwaschen?»
    «Anfangs ja, glaube ich. Sie schrieb Briefe an die Zeitungen und an jeden sonst, der ihr einfiel, und beteuerte ihre Unschuld. Aber bald war sie keine Nachricht mehr wert, und die Zeitungen verloren das Interesse, bis der
Guardian
das Thema zum zehnten Jahrestag des Prozesses wieder aufgriff. Kurz nach ihrer Verurteilung hatte ihre Mutter eine Anzeige mit einem Foto in einer der Londoner Zeitungen geschaltet und jeden, der Jeanie am Tag des Mordes gesehen hatte, gebeten, sich zu melden. Dann starb ihre Mutter, und sie hat wohl die Hoffnung verloren. Jetzt konnte sie das Geschehene nur noch wieder und wieder durchgehen.»
    «Und das tat sie dann bei Ihren Treffen?»
    «Meistens, ja. Ich fand es nicht gesund, die immer gleichen Geschichten Woche für Woche durchzukauen. Aber sie sagte, sie müsse sich erinnern. Alle anderen würden vergessen, was passiert war. Eines Tages, sagte sie, würde sie vielleicht vor Gericht aufstehen müssen und ihre Version der Ereignisse noch einmal erzählen. Dann müsse sie wissen, was sie sagen sollte.»
    «Können Sie sich daran erinnern, was sie Ihnen erzählt hat?»
    «Oh, ich denke schon», sagte die Geistliche. «Ich habe es ja oft genug gehört.» Sie drehte sich auf ihrem Stuhl ein wenig zur Seite, sodass sie Vera nicht direkt ansah. Draußen gab es einen kurzen Aufruhr, Stimmen wurden lauter, eine Wärterin rief, doch das beachtete sie nicht. «Jeanie liebte die Musik. Sie war ehrgeizig. Sie wollte sie zu ihremBeruf machen. Nicht als Lehrerin, sagte sie. Das hätte sie nie fertiggebracht. Sie wusste, dass es hart sein würde, in dem Beruf Fuß zu fassen, deswegen konzentrierte sie sich im Studium voll und ganz auf ihre Arbeit. Sie ist zwar mit ein paar Jungs ausgegangen, aber da war nichts Ernstes. Sie hätten ihr nur im Weg gestanden. Dann begegnete sie Keith Mantel und

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