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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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weg und drehte ihnen den Rücken zu, sodass sie nicht hörten, was er sagte.
    «Können wir hier irgendwo miteinander reden?», fragte Vera, als er fertig war.
    «Hier? In der Kirche?» Als hätte sie, wie sie es Ashworth gegenüber später ausdrückte, eine Vernehmung im Bordell oder auf dem Herrenklo vorgeschlagen.
    «Wenn wir da niemanden stören.»
    «Das möchte ich lieber nicht.»
    Also steuerten sie wieder den kleinen Raum neben der Bäckerei an, mit Aussicht auf noch mehr Tee. Sie kamen an einem Zeitungsstand vorbei, und in den Schlagzeilen der regionalen Blätter stand überall fett Christophers Name. Aber Vera konnte einfach kein Mitleid für Robert Winter aufbringen, und sie wünschte sich, sie wäre energischer aufgetreten, standfest geblieben. Was hatte dieser Mann bloß an sich, dass er immer seinen Willen bekam?
    In der Hoffnung, ihn aus dem Konzept zu bringen, begann sie mit einer Frage, die er nicht erwarten würde.
    «Wieso Bewährungshelfer? Das ist wahrlich was anderes als die Architektur.»
    «Mehr Herausforderungen.» Er lächelte höflich. Sie dachte, dass er dieses Frage-Antwort-Spiel auch früher schon gespielt haben musste.
    «Was bringt Ihnen das?»
    «Geld ganz bestimmt nicht», sagte er. «Die Architektur war lukrativer. Das sind wohl die meisten Berufe.»
    Sie spürte, dass Ashworth neben ihr hoffte, sie würde ihr Vorgehen ändern. Sie wusste, was er dachte. Robert Winter war ein trauernder Hinterbliebener, den man mit etwas mehr Fingerspitzengefühl anfassen sollte.
    «Was also dann?», wollte sie wissen.
    «Mitunter können wir tatsächlich etwas verändern», sagte Robert. «Ein Leben verändern. Wenn einem das gelingt, gibt es auf der ganzen Welt keine lohnendere Arbeit.»
    «Haben Sie für Jeanie Long etwas verändert?»
    «Ganz offensichtlich nicht.» Er blieb immer noch ruhig, ließ nicht einmal einen Hauch von Gereiztheit erkennen. «Ich habe dem Urteil des Gerichts Glauben geschenkt, dem zufolge sie eine Mörderin war. Ich habe sie im Stich gelassen, weil ich ihre Geschichte nicht geglaubt habe.»
    «Sie müssen sich ganz schön schlecht fühlen deswegen.»
    «Natürlich, aber ich darf nicht zulassen, dass das meine Arbeit mit den anderen Gefangenen beeinträchtigt. Ich glaube nicht, dass ich mir Vorwürfe machen muss. Viele Menschen, mit denen ich arbeite, wollen mich manipulieren und sind überzeugend dabei. Viele behaupten, unschuldig zu sein. Manchmal irren wir uns eben   –»
    «Wissen Sie», unterbrach Vera ihn, «es klingt ein bisschenso, wie wenn man zur Polizei geht. Die Motivation, meine ich. Man bekommt die Lizenz zum Einmischen. So erhalten wir Zugang zu dem ganzen Sumpf und der ganzen Korruption, die uns ehrbaren Leuten für gewöhnlich verschlossen bleibt. Das Verbrechen besitzt etwas Glamouröses, nicht wahr? Etwas Aufregendes. Jeder würde gern mehr darüber wissen, aber wir werden dafür bezahlt, unsere Nasen da reinzustecken. Das ist bei Ihnen genauso.»
    «So mögen Sie es sehen, Inspector. Ich kann Ihnen da nicht zustimmen.»
    «Hatte Christopher irgendwelche Freundinnen, als er noch zu Hause wohnte?», fragte Vera nun.
    «Nicht dass ich wüsste.»
    «Hätten Sie es denn gewusst? Gehörte das zu den Dingen, über die Sie miteinander sprachen?»
    «Vermutlich nicht. Christopher war ein sehr in sich gekehrter junger Mann.»
    «Ganz schön ironisch, nicht wahr?» Sie lächelte, um ihm zu zeigen, dass sie ihn auf keinen Fall beleidigen wollte. «Wahrscheinlich wussten Sie mehr über das Leben der Straftäter in Ihrer Obhut als über Ihren eigenen Sohn.»
    Schnell machte sie weiter, bevor Robert darauf reagieren konnte. «Warum wollten Sie gestern Abend eigentlich unbedingt mit Ihrer Familie zu dem Lagerfeuer?»
    «Es war eine schwere Zeit für uns alle. Jeanies Selbstmord, der Mantel-Fall wieder in allen Zeitungen, das hat unangenehme Erinnerungen heraufbeschworen. Ich dachte, es würde uns guttun, abends einmal rauszukommen. Nicht dauernd nur Trübsal zu blasen.»
    «Haben Sie denn nicht daran gedacht, dass es genau den gegenteiligen Effekt haben könnte, die Alte Kapelle wiederzusehen? Zumindest auf Emma?»
    «Nein», sagte er. Und Vera sah ihm an, dass er vermutlichdie Wahrheit sagte. Es war ihm nicht klar gewesen, dass es Emma schwerfallen könnte, wieder in das Haus zu gehen, in dem ihre beste Freundin gewohnt hatte, bis sie ermordet wurde. Und Ashworth hielt
sie
für unsensibel. «Nein. Das ist alles lange her. Emma hat sich weiterentwickelt. Das haben

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