Opferschuld
verliebte sich. So wie sich die meisten Kinder in einen Popstar verlieben, wenn sie fünfzehn sind. Aber Keith Mantel war Wirklichkeit, und er war ungebunden und schien ihre Gefühle zu erwidern.»
«Was hat sie zuletzt über Mantel gedacht?»
«Sie hat gesagt, sie würde nichts bereuen. Jener Sommer sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. Nur die Erinnerung daran halte sie überhaupt noch am Leben. Ich glaube, sie träumte immer noch davon, dass sie wieder zusammenkämen, sobald ihr Name reingewaschen wäre.»
«Hat sie über Abigail gesprochen?»
«Ja, und es war beinahe so, als würde sie dem Mädchen selbst die Schuld dafür geben, dass es ermordet wurde. Ich fand es furchtbar, wie sie über das Mädchen sprach. Sie sagte, die Macht, die Abigail über ihren Vater hatte, sei unnatürlich gewesen, befremdlich. ‹Wenn ich religiös wäre, dann hätte ich gesagt, sie verkörpert das Böse. Ich wollte sie ja verstehen, aber es ist schwer, jemanden zu verstehen, der so verkorkst und selbstbezogen ist. Natürlich habe ich gesehen, wie es dazu gekommen ist – ihre Mutter starb, als sie noch klein war, und ihr Vater hat sie dann verzogen. Aber sie hat sich in ein Monster verwandelt, und dafür gibt es keine Entschuldigung.› Sie machte Abigail dafür verantwortlich, dass Keith sie rausgeworfen hatte. Ich merkte, dass ihr das immer noch wehtat. Sie suchte immer noch nach einer Erklärung dafür, einer Erklärung, bei der sie nicht die Rolle der verschmähten Geliebten spielte.»
«Hat sie Ihnen den Tag des Mordes geschildert?»
«Ja, ungefähr genauso wie bei ihrer Aussage vor Gericht. Früh am Morgen habe sie in der Alten Kapelle angerufen. Es ging nur der Anrufbeantworter an. Das hieß nicht, dass Keith nicht da war. Sie sagte, er wollte nicht mit ihr sprechen, er wüsste, wenn sie miteinander sprächen, dann müsste er sie wieder bei sich einziehen lassen. Sie war versucht, bei ihm vorbeizugehen, aber es war Wochenende, und sie wusste, wenn Abigail da war, wäre er sowieso nicht er selbst. Aus einer Laune heraus beschloss sie, den Tag über wegzufahren. Sie fuhr nach Hull und nahm den ersten Zug nach London. Am späten Nachmittag nahm sie einen Zug zurück. Niemand hat sie gesehen oder mit ihr gesprochen. Als sie im Haus ihrer Eltern ankam, erfuhr sie, dass Abigail tot war. Sie versuchte, Keith zu erreichen, um ihm ihr Beileid auszusprechen, aber wieder ging niemand ans Telefon. Ihre Eltern redeten ihr aus, zur Kapelle zu gehen. Später sagte man ihr, dass er bei einem Freund eingezogen sei, um in Ruhe zu trauern. Und ein paar Tage danach wurde sie verhaftet.»
«Hat sie irgendwelche Vermutungen darüber angestellt, wer Abigail umgebracht hat?»
«Vage hat sie angedeutet, dass Abigail Ärger herausforderte. So wie sie sich anzog und die Männer reizte, mit ihrem Getue und dem Kichern und Flirten. Irgendein trauriger, kranker alter Mann also, sagte Jeanie. Ich habe mich gefragt …»
«Ja?»
«Ich habe mich gefragt, ob Jeanie vielleicht ihren eigenen Vater meinte. Ob sie ihn deswegen so hasste. Nicht, weil er Abigail umgebracht hatte. Das hätte sie ihm verziehen. Aber weil er sie die Schuld dafür auf sich nehmen ließ. Weil er sie hier drinnen vermodern ließ. Aber das habe ichnatürlich nicht geglaubt. Jedenfalls nicht länger als eine Sekunde. Ich hielt sie für schuldig.»
Kapitel sechsundzwanzig
Als Vera wieder im Hotel eintraf, war es fast schon Zeit fürs Abendessen, und sie hatte Lust, sich zu streiten. Vom Gefängnis aus war sie nach Crill gefahren, aufs Polizeirevier, wo man die Einsatzzentrale eingerichtet hatte. Sie hatte erwartet, dort wie zu Hause behandelt zu werden. Nicht unbedingt wie eine weibliche Gottheit, aber doch wie jemand, dessen Wort etwas zählte. Es war ganz und gar nicht so gewesen. Paul Holness spielte sich als Herrscher über die Einsatzzentrale auf, er rief seinem Team die Befehle zu und teilte häppchenweise Lob aus. Die Leute hingen an seinen Lippen. Auf ihre Fragen ging er zunächst mit herablassender Belustigung ein, dann mit glatter Feindseligkeit. Sie hatte ihn falsch eingeschätzt. Holness mochte ja nicht der Hellste sein, aber dass sie einen aktiven Part in den Ermittlungen zum Christopher-Winter-Mord spielte, sah er nicht vor.
Im Hotel ging sie schnurstracks an die Bar. Dort sah es aus wie in einem Herrenclub, mit gedämpfter Beleuchtung und so leiser Musik, dass man unmöglich herausfinden konnte, was überhaupt lief. Es waren Schwingungen im Hintergrund,
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