Opferschuld
das aufreizende Gesumme eines Insekts, aber doch keine Musik. Sie hätte eine Dusche brauchen können, aber sie wollte erst einen Drink. Und sie hatte keine Lust, allein zu trinken. Sie rief Ashworth auf seinem Handy an.
«Wo stecken Sie?»
«Bin gerade angekommen.» Er spürte ihre schlechte Laune und fügte hinzu: «Ma’am.» Eine Art Versicherung. Es schadete nicht, und manchmal besänftigte es sie. Heute Abend jedoch nicht.
«Kommen Sie runter. Ich gebe einen aus.»
Sie saß auf einem ledernen Chesterfield-Sofa, das sie mit ihren Taschen und dem Mantel fast vollständig einnahm, und schäumte vor Wut, als er kam.
«Wie war Ihr Besuch im Gefängnis?», fragte er sanft.
«Interessant, aber darüber sprechen wir später.»
«Und Ihr Treffen mit der hiesigen Polizei?»
Sie gab keine direkte Antwort. «Was halten Sie denn von denen? Haben die die Liste mit den Zeugen, die bei Mantel waren, rausgerückt? Ohne großes Gezicke?»
«Ohne Probleme. Aber das erspart ihnen ja auch einiges an Arbeit. Ein Mann mehr, der die Aussagen überprüft und die weiteren Befragungen übernimmt. Das würden sie ja wohl kaum ausschlagen.»
«Ich fand sie verdammt unkooperativ.»
Er sagte nichts und dachte:
Sie haben also Ihren Willen nicht bekommen.
«Die wollen die beiden Fälle als voneinander unabhängige Untersuchungen behandeln. Es gibt zu diesem Zeitpunkt keinen Anhaltspunkt, weswegen man die Ermittlungen zusammenlegen sollte. Sagen die. Sagt Holness. Das wäre Blödsinn. Und selbst wenn sie einen Anhaltspunkt hätten, wäre es nicht meine Aufgabe, herauszufinden, wer Abigail umgebracht hat. Ich soll ja bloß zu einem Urteil darüber gelangen, was das damalige Team falsch gemacht hat.»
«Da steckt bestimmt was Politisches dahinter», sagte er. «Die wollen sicher nicht, dass jemand von außerhalb einen aktuellen Mordfall übernimmt. Das würde sie alleziemlich inkompetent aussehen lassen. Dachten Sie etwa, dass Sie damit durchkommen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie so etwas zustimmen würden, wenn es unseren Bezirk beträfe.»
«Wohl nicht», sagte sie.
«Holness hätte doch sogar anordnen können, dass Sie im Mantel-Fall weiter nichts unternehmen, solange die laufende Ermittlung in Gang ist.»
«Das soll er bloß mal versuchen!» Sie konnte es nicht ausstehen, wenn Ashworth so verständig war. «Davon ganz abgesehen, würde die Presse das als Vertuschung betrachten.»
«Gehört denn irgendeiner von den Kollegen, die den Mantel-Fall bearbeitet haben, zu dem Team, das sich mit dem Mord an Christopher Winter befasst?», fragte er.
«Nein.»
«Dann verstehe ich nicht, dass Sie Einwände haben. Es ist ein neues Team. Denen werden wohl kaum die gleichen Fehler unterlaufen wie damals. Und sie werden Sie über die Entwicklungen auf dem Laufenden halten …»
«Sagen sie wenigstens. Insbesondere, wenn sie irgendwas herausfinden, was mit den Mantel-Ermittlungen zu tun hat.»
«Na also.»
Sie trank ihren Scotch und grinste ihn plötzlich an. «Kümmern Sie sich nicht weiter um mich, Herzchen. Ich möchte einfach nach Hause. Das verstehen Sie doch.»
Er nickte.
«Und was gibt’s bei Ihnen Neues?»
«Ich glaube nicht, dass uns die Zeugenaussagen viel nützen werden. Offenbar gehörte die Familie Winter zu den letzten Besuchern, die bei der Party ankamen. Caroline Fletcher kam noch später, aber sie hat ausgesagt, dass sieauf dem Weg zum Feuer niemanden auf der Zufahrt gesehen hätte.»
«Dann kommt sie also am ehesten in Frage, wenn einer der Gäste Christopher umgebracht haben sollte?»
«Nein», sagte er. «Jeder hätte sich kurz davonstehlen und ihn treffen können, ohne dass die restliche Menge etwas mitbekommt. Niemand hat gesehen, dass Robert Winter weggegangen wäre, aber es hat auch niemand Mrs Winter vermisst, als die ihren Mantel holen ging.»
«Hat man die Mordwaffe schon gefunden?»
«Nein. Sie wollen morgen weitersuchen.»
«Dann sind sie also noch nicht besonders weit gekommen», sagte sie und konnte die Genugtuung in ihrer Stimme nicht verbergen.
«Wie sieht der Plan für morgen aus?»
«Wir müssen mit Mantel reden. Da können die nichts gegen haben. Er war der Vater von unserem Opfer. Das ist nur recht und billig.»
Als sie am nächsten Morgen zur Alten Kapelle kamen, wurde es gerade erst hell. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Wind wehte immer noch, fegte einen Düngemittelsack vor ihnen über die Straße, abgestorbene Zweige von den gekrümmten Bäumen und trieb
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