Opferspiel: Thriller (German Edition)
sie den Fall immer noch nicht aufgeklärt hatte.
Sie schloss die Augen und lauschte auf das leise Schnarchen von nebenan. Freitag früh, und Rory und Harry schliefen tief und fest in ihrem großen Bett. Rory musste nach seinem kleinen Bruder gesehen haben und dann auf der Tagesdecke eingeschlafen sein. Sie hatte ihre Daunendecke über ihn gebreitet und war dafür in sein Bett gegangen. Rory war wirklich ein guter Junge, sagte sie sich, und der Anblick von Harrys pummeliger kleiner Hand, die flach mitten auf Rorys Gesicht lag, war genau das, was sie in diesem Moment gebraucht hatte. Er hatte den abartigen Schrecken dessen, was Mac angetan worden war – der mit vollem Namen Dave MacMahon hieß, wie sie jetzt wusste –, ein wenig gelindert. Der dreistöckige Whiskey, den sie in der Hand hielt, half auch, aber er konnte nicht das alles beherrschende Gefühl vertreiben, dass in ein paar Stunden die Hölle los sein würde. Es würde einen öffentlichen Aufschrei geben, weil sie mit ihren Kindern essen war, während ein Killer mordend durch die Stadt zog, und auf dem Revier würde auch alles anders sein. Wenn ein Cop ermordet wurde, egal, ob ein guter oder ein schlechter, nahmen alle Cops das persönlich.
Beim Geräusch der Haustür richtete sie sich wachsam auf. Er war in Macs Wohnung eingetroffen, als sie gerade gehen wollte, und hatte sie vor den Streifenbeamten in die Mangel genommen und wissen wollen, warum sie nicht nach Vorschrift gehandelt hatte, statt im Alleingang die Tür aufzubrechen. Jo hätte einiges zu erwidern gehabt, aber sie war der Streitereien mit Dan mehr als überdrüssig.
Sie hörte, wie er die Küchenschränke zuknallte, dann ein Poltern, das vermutlich von der losen Schranktür herrührte, die jetzt endgültig abgefallen war. Wahrscheinlich sucht er die Whiskeyflasche, dachte sie und schielte zum Nachttisch, wo sie stand.
Dan kam herauf und blieb vor der Tür stehen. Hatte wohl das Licht durch den Spalt unten gesehen und nahm an, dass Rory noch wach war. Ein Klopfen, dann steckte er den Kopf herein und guckte überrascht, als er sie dort sah. Er wollte sich gerade wieder zurückziehen, da klopfte sie neben sich auf die Matratze.
Er sah erschöpft aus, bemerkte sie, während er die Tür zumachte und sich setzte, und seine dunklen Augenringe traten noch stärker hervor. Vornübergebeugt saß er da, am Ärmel seiner Windjacke waren Blutflecke. Er musste geholfen haben, Mac abzuhängen. Außerdem roch er nach Zigarettenrauch. Dan hatte seit Jahren nicht mehr geraucht. Jo reichte ihm ihr Glas, das er auf einen Zug austrank. Sie schenkte nach.
»Na los, sag es schon«, forderte er sie auf und starrte ins Glas.
»Was?«
»›Ich habe dich gewarnt‹.«
Jo wollte erwidern, dass ihr keineswegs nach Rechthaberei zumute war, ließ es aber sein.
»Hawthorne ist ausgeflippt«, fuhr er fort. »Er war bei seinem jährlichen großen Jägerdiner gewesen und kam in Smoking und Fliege und allem. Meinte, wir hätten ihn nicht wegen etwas wegholen sollen, das er auch noch am Morgen hätte erledigen können. Aber man würde doch keinen Hund über Nacht so hängen lassen, Jo. Mac war schließlich einer von uns.«
Jo wurde weich. Die Toten zu respektieren war wichtig für gute Menschen wie Dan. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und rieb seinen Rücken.
»Ich bin so ein verfluchter Idiot«, stöhnte er. »Weißt du, er ist damals zu mir gekommen, vor ein paar Jahren, und hat mir gesagt, was in jener Nacht in der Zelle mit dem Jungen passiert ist. Dass er ihm eine zu viel gescheuert hat und dass der Junge unglücklich gefallen und mit dem Kopf auf dem Metallrahmen der Pritsche aufgeschlagen ist. Dass er das nicht gewollt hat. Ich habe ihm geglaubt.«
Jo zog ihre Hand weg. »Und du hast nie etwas gesagt?«
»Fang nicht an. Nicht heute Nacht. Es gibt jetzt nur eines, worüber wir reden müssen: Wie können wir diesen Killer stoppen? Es war etwas anderes, als die Opfer alle aus dem Gangstermilieu kamen – die Öffentlichkeit regt sich nicht auf, wenn der Abschaum sich gegenseitig umbringt –, aber jetzt haben wir noch einen Priester und einen Polizisten. Das gemeine Volk wird nach Blut lechzen, und zwar sobald der Tag anbricht.« Er sah sie an, seine Züge angespannt vor Sorge. »Du musst ihn finden, Jo. Du bist die Einzige, die weiß, warum er das tut und was er als Nächstes vorhat.«
47
Weil niemand sich die Mühe gemacht hatte, Merrigan zu informieren, ging Jo nur in Begleitung von Foxy und Sexton
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