Opfertod
tief ins Gesicht. Kurz darauf sah er Svenja Stollberg in einem der Aufzüge verschwinden. Artifex blieb stehen und verfolgte die Stockwerkanzeige. Dann stieg auch er in einen Aufzug und wartete darauf, dass sich dieser endlich schloss. Komm schon, geh zu! Er verlagerte sein Gewicht ungeduldig von einem Bein auf das andere.
Als sich wenig später die Türen zum Parkdeck öffneten, beobachtete er, wie die junge Frau im Eiltempo zu ihrem Wagen lief. Artifex schaute sich nach den Kameras um. Er konnte von Glück reden, dass Stollberg ihren silbergrauen Lupo hinter einem Pfeiler geparkt hatte, der die Sicht auf den Fahrersitz des Wagens verdeckte. Artifex folgte ihr über das Parkdeck und wartete noch, bis Stollberg das Telefonat beendet, ihr Handy wieder eingesteckt und sich hinter das Steuer ihres Wagens gesetzt hatte, ehe er sich zu erkennen gab. »He, Sie!«, rief er und kam mit großen Schritten auf sie zu. »Ihr Kugelschreiber – ich habe ganz vergessen, ihn zurückzugeben!«
Die junge Frau ließ die Scheibe herunter und sah ihn ungläubig an. »Aber den hätten Sie doch behalten können …«
Artifex stützte sich mit einer Hand auf dem Dach des Lupos ab, lehnte sich zu ihr hinunter und lächelte sie aus strahlend blauen Augen an. »Nein, das kann ich nicht annehmen.« Mit seiner Linken streckte er ihr den Stift durch das offene Wagenfenster entgegen, gerade so weit, dass sie die Injektionsnadel der Spritze unter seinem Handgelenk nicht sehen konnte. Sobald sie den Stift nahm, würde er blitzschnell zustechen. Da die Betäubung binnen weniger Sekunden einsetzen würde, war die Gefahr, dass Svenja Stollberg Aufsehen erregen würde, relativ gering.
»Nein, wirklich – ist schon okay«, bekräftigte die Reporterin. Artifex’ Lächeln wurde breiter, so dass ihm fast die Wangenmuskeln schmerzten. »Aber ich bestehe darauf, Ihnen den Kugelschreiber zurückzugeben. Nun nehmen Sie ihn schon …«
Gerade wollte die Reporterin nach dem Stift greifen, da erklang unverhofft eine tiefe Stimme hinter ihnen: »Hey, Svenja! Nimmst du mich mit in die Redaktion?«
»Auch das noch …«, stöhnte die Reporterin.
Artifex folgte ihrem Blick. Zu seinem Ärger kam ein schlaksiger Kerl mit einer Spiegelreflexkamera in der Hand in ihre Richtung geeilt. Rasch zog Artifex die Hand zurück und ließ den Kugelschreiber und die Spritze in seiner Jacketttasche verschwinden. Verdammt! , fluchte er innerlich und zwang sich, die Fassung zu bewahren. Einmal mehr kam ihm der Gedanke, wie hilfreich es wäre, in Situationen wie dieser einen Partner dabeizuhaben. Einen wie Gemmy, dachte er kurz, verwarf den Gedanken aber wieder. »Man sieht sich«, sagte er schnell, nickte Svenja Stollberg kurz zu und verschwand, noch bevor der Pressefotograf den Wagen erreichte.
Als die Reporterin Momente später ihren Lupo mit dem Knipser auf dem Beifahrersitz aus der Tiefgarage fuhr, stand Artifex hinter einem Pfeiler und notierte sich das Nummernschild. Keine Sorge, Tilla – die entkommt mir nicht … Früher oder später krieg ich sie. Und er hatte auch schon eine Idee, wie er das anstellen würde.
22
Am selben Abend
Es ging bereits auf zweiundzwanzig Uhr zu, als Lena den Stapel mit den Fallanalyse-Gutachten auf ihrem Schreibtisch beiseiteschob und gähnend die Arme über dem Kopf ausstreckte. Sie war so sehr in ihre Arbeit vertieft gewesen, dass sie kaum bemerkt hatte, wie die Zeit vergangen war. Lena stand auf und kippte das Fenster, um ein wenig frische Luft in den Raum zu lassen. Draußen war bereits die Dunkelheit hereingebrochen, während sie wieder einmal die Letzte auf dem Präsidium war. Zumindest dachte sie das – bis sie ein Blick hinunter zum Parkplatz eines Besseren belehrte. Seltsam, ich dachte, die wären längst gegangen, wunderte sie sich, als sie im Lichtschein der Laterne Volker Drescher und Rebecca Brandt gemeinsam zu ihren Autos gehen sah. Lena traute ihren Augen kaum, als sie Zeuge wurde, wie sich ihr Chef und Brandt mit einem innigen Kuss verabschiedeten. »Das gibt’s doch nicht!« Schnell löschte Lena das Licht, um nicht entdeckt zu werden. Sie trat zurück ans Fenster und spähte gleichermaßen überrascht wie amüsiert wieder hinaus zum Parkplatz. Ob Drescher nun ein Fortschritt gegenüber Brandts Immobilienhai ist? Offensichtlich hat Volker Drescher weitaus mehr Geheimnisse, als ich angenommen habe , dachte Lena, wobei ihr die Ermittlungsakte von Dr. Cornelia Dobelli wieder in den Sinn kam. Sie dachte einen
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