Opfertod
Augenblick darüber nach, während sie Drescher und Brandt in entgegengesetzte Richtungen davonfahren sah. Nach kurzem Zögern schlich sie schließlich über den unbeleuchteten Korridor auf Dreschers Büro zu. Sie wusste, dass das, was sie vorhatte, gegen die Vorschriften verstieß, hielt ihr eigenmächtiges Handeln nunmehr jedoch für unumgänglich. Die Türen zu den anderen Büroräumen standen offen. Hier und da das schwache Leuchten einer Stand-by-Anzeige oder das Flimmern eines Monitors. Sonst war alles dunkel. Obwohl sie überzeugt war, das Richtige zu tun, kam Lena sich wie eine Einbrecherin vor. Die Tür zu Dreschers Büro gab ein verräterisches Knarren von sich, als Lena den Raum betrat. Dieser war um einiges geräumiger als die übrigen Büros. In der Ecke lehnte ein Golfbag. Vor dem Fenster stand eine Massageliege. Lena knipste die Lampe auf dem breiten Mahagonischreibtisch an, auf dem Kugelschreiber und ein Stapel von Drescher signierter Bücher lag. Dann zog sie vorsichtig die oberste Schublade auf. Wie Rebecca Brandt gesagt hatte, bewahrte Drescher hier allerlei Privatkram auf. Zwischen Büroklammern, Bleistiften, Zigarren, gerahmten Fotos seiner beiden erwachsenen Söhne fand Lena eine Kopie ihres Lebenslaufs und eine ältere Ausgabe der Fachzeitschrift Kriminalist . Dabei handelte es sich um jene Ausgabe, in der Lena vor einigen Monaten einen Bericht über neue Strukturen der operativen Fallanalyse publiziert hatte. Drescher hatte die entsprechenden Seiten mit gelben Post-its versehen. Das im Artikel abgedruckte Porträtbild von Lena hatte er rot umkringelt. Ohne recht zu wissen, was sie davon halten sollte, legte Lena die Zeitschrift zurück, als plötzlich die Tür zum Büro aufgestoßen wurde. Das Deckenlicht ging an. Erschrocken fuhr Lena herum.
»Frau Wang – haben Sie mir einen Schrecken eingejagt«, entfuhr es ihr erleichtert, als sie die Putzfrau, mit der sie bereits am Vorabend Bekanntschaft gemacht hatte, erkannte. Wang nickte ihr freundlich zu. »Guten Abend, Frau Peters. Sie wieder Letzte auf Präsidium.«
Lena lächelte und sah der Frau zu, wie sie ihren Putzwagen weiter über den Korridor schob. Dann durchwühlte sie hastig die nächste Schublade, bevor sie zwischen zwei Schnellheftern schließlich fand, wonach sie gesucht hatte: die Ermittlungsakte von Dr. Cornelia Dobelli. Lena blätterte das Schriftstück durch, das randvoll war mit Notizen, allerlei Skizzen und weiteren Tatortfotos. Doch soweit sie das in der Eile beurteilen konnte, war da nicht der allerkleinste Hinweis auf Dr. Dobellis Verschwinden. Versunken sah Lena auf. Plötzlich spürte sie, dass sie nicht allein im Raum war. Feste Schritte näherten sich ihr, die garantiert nicht von Frau Wang stammten.
23
»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Die tiefe Stimme gehörte Volker Drescher. Eine Sekunde lang war Lena wie erstarrt, bevor sie sich langsam zu ihm umdrehte. Er musste sich angeschlichen und sie schon eine Weile beobachtet haben und schien alles andere als erfreut, sie in seinem Büro beim Durchwühlen seines Schreibtisches anzutreffen. »Verflucht noch mal – was machen Sie hier?«
Lena geriet ins Stammeln. »Ich … ich …« Scheiße!
»Haben Sie vollkommen den Verstand verloren!«, blaffte er sie an und entriss ihr Dr. Dobellis Akte.
Lena erhob sich. Sollte er doch selbst erst einmal Stellung beziehen. »Was macht die Ermittlungsakte von Dr. Dobelli in Ihrem Schreibtisch?« Lena sah Drescher herausfordernd an.
»Keine Ahnung«, antwortete er wütend und blickte sie über den Rand seiner Brille scharf an. »Was ich aber sehr wohl weiß, ist, dass Sie zu weit gegangen sind!« Er zeigte mit dem Finger auf Lena und funkelte sie finster an. »Sie wissen, dass ich Sie für eine ausgezeichnete Profilerin halte – aber anscheinend haben Sie vergessen, wer hier die Ermittlungen leitet!« Er fuchtelte mit den Händen durch die Luft und brüllte so laut, dass seine Halsadern hervortraten.
Lena riss die Hände hoch. »Okay, okay – ich hab Mist gebaut«, gab sie zu, mehr, um Zeit zu gewinnen.
»Sie haben mein Vertrauen missbraucht!«
»Aber …«, setzte sie an.
»Kein Aber – Sie sind raus, Peters!«
Sprachlos studierte Lena sein Gesicht. »Sie entziehen mir den Fall?« Die Luft im Raum war zum Zerreißen gespannt.
»So ist es – und jetzt verlassen Sie mein Büro!«, befahl er und zeigte mit einem Finger zur Tür.
Lena spürte, wie ihr gleichzeitig heiß und kalt wurde. »Ich fasse es nicht! Erst wollen
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