Opfertod
Ariane Wirt bat sie herein. Nach einem prüfenden Blick zur Straße, wie um sicherzugehen, dass ihnen niemand gefolgt war, schloss Wirt die Tür. »Ich habe das Klingelschild entfernt, um zu vermeiden, dass mich die Presse ausfragt, über Suzanna meine ich …« Wirt schlurfte in ihren Pantoffeln voran, während sie ihr über einen mit verstaubten Medaillen und Kinderfotos behängten Flur folgten. Im Haus lag der modrige Geruch von alten Teppichen. Von innen betrachtet wirkte es deutlich kleiner als von außen, was Lena den wuchtigen Antikmöbeln zuschrieb, mit denen die Räume vollgestellt waren. Es sah aus wie in einem Trödelladen.
»Kann ich gut nachvollziehen«, pflichtete Lena bei, als sie in der Küche angelangt waren. Auch hier dunkle Möbel vergangener Jahrhunderte. Große Fenster zeigten in den verwilderten Garten hinter dem Haus.
»Tee?«
»Gern«, sagte Lena und nahm mit Belling am Küchentisch Platz.
»Noch immer mit viel Zucker und einem Schuss Milch?«
Lena lächelte. »Milch ja, Zucker nein.«
»Und für Sie? Herr Belling?«
Es vergingen ein, zwei Sekunden, ehe Belling aufsah und registriert hatte, dass sie mit ihm sprach. »Äh, danke, für mich nichts«, räusperte er sich, als wäre er mit den Gedanken bereits bei dem Treffen mit seiner Exfrau. Suzannas Mutter setzte Wasser auf. »Da sind Sie jetzt also bei der Polizei.« – »In gewisser Hinsicht ja …«, gab Lena zur Antwort.
»Gestern war auch schon jemand von der Polizei da.« Sie nahm eine Tasse und eine Dose mit Teebeuteln aus dem Küchenschrank. »So ein Mann, nicht sehr groß – wie hieß er noch gleich …«
Nicht sehr groß? , dachte Lena, hellhörig geworden. »Etwa Drescher?«, fragte sie verwundert.
»Ja, richtig.«
Lena tauschte einen irritierten Blick mit Belling. Wozu stattete ihr der Leiter der Mordkommission höchstpersönlich einen Besuch ab, wenn er doch seine Leute dafür hatte? Noch als Lena darüber nachdachte, nahm Ariane Wirt ein gerahmtes Bild von der Fensterbank, das Suzanna bei den Schwimm-Meisterschaften ’89 zeigte. »Wissen Sie noch, Sie beide waren im Sommer öfter im Freibad zusammen schwimmen.« Mit Tränen in den Augen reichte sie Lena das Bild.
Lena senkte den Blick auf das Foto. »Und manchmal sind wir am Wochenende zum See gefahren.«
»Wie alt mögt ihr damals gewesen sein? Zwölf? Dreizehn?«, überlegte Wirt mit einem traurigen Lächeln. »Könnte hinkommen«, meinte Lena und sah ihr an, dass sie versuchte, stark zu sein und gegen die Tränen anzukämpfen. Ariane Wirt so leiden zu sehen schlug Lena auf den Magen. Wenn einer Mutter ihr Kind genommen wurde, und noch dazu das einzige, war der seelische Schmerz kaum in Worte zu fassen. Zudem war es bei einem so unvorstellbar grausamen Gewaltverbrechen, wie im Fall von Suzanna Wirt, für die Hinterbliebenen oft schwer, das Geschehene zu akzeptieren. Hinzu kam die Ungewissheit über den Tathergang, die das Abschiednehmen erheblich erschwerte. Wie genau war sie gestorben? Wie lange hat sie gelitten? Lena wusste, dass diese Fragen die Angehörigen oft bis ans Ende des Lebens begleiteten und nicht selten zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führten.
Sie gab das Bild an Belling weiter, als Ariane Wirt kopfschüttelnd auf den Stuhl deutete, auf dem Lena saß. »Ich kann es immer noch nicht fassen, dass meine Suzanna tot ist. Ich meine, vor ein paar Wochen saß sie noch hier am Tisch.« Sie schüttete einige Pillen aus einem kleinen Fläschchen, das auf der Ablage gestanden hatte, in ihre Hand und spülte diese mit einem Glas Leitungswasser hinunter. »Ohne diese Dinger würde ich wohl langsam, aber sicher den Verstand verlieren«, gab sie mit einem gezwungenen Lachen zu, als sie bemerkte, dass Lena sie mit forschendem Blick ansah.
Immerhin lieferten die Tabletten eine Erklärung dafür, weshalb Ariane Wirt nach allem, was geschehen war, noch halbwegs gefasst wirkte, dachte Lena und nickte langsam.
»Suzanna war so ziemlich die beste Schwimmerin im Umkreis«, erinnerte sich Lena. »Sie hat sämtliche Trophäen eingeheimst … an ihr kam absolut niemand vorbei.«
Die Mundwinkel von Suzannas Mutter fuhren leicht in die Höhe, und es freute Lena, sie zum Lächeln gebracht zu haben.
»Dafür waren Sie immer die Mutigere, wissen Sie noch?«
Lena schaute einen Augenblick durch sie hindurch und reckte das Kinn vor. »Da täuschen Sie sich. Ich hatte bloß die größere Klappe, das war alles.« Sie wiegte ihr Kinn in der am Tisch
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