Opfertod
dem Haus Ausschau hielt, das in einer trostlosen Gegend am Rande einer kleinen Vorstadtsiedlung lag. Je näher sie dem Haus der Wirts kamen, desto unwohler wurde ihr bei der Vorstellung, Ariane Wirt gegenüberzutreten. Nicht nur, was Suzannas Ermordung anbelangte, sondern auch, weil sie mit diesem Besuch zwangsläufig mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert werden würde. Es lag zwei Jahrzehnte zurück, dass sie Ariane Wirt zuletzt in Fischbach begegnet war. Damals war Lenas Welt noch in Ordnung gewesen. Sie hatte eine wohlbehütete Kindheit in einem liebevollen Elternhaus genossen. Hatte viele Freunde. War eine Einserschülerin gewesen. Doch nach dem Tod ihrer Eltern und der Trennung von ihrer Zwillingsschwester war ihr Leben aus dem Gleichgewicht geraten. Lena hatte sich mehr und mehr von ihrer Umwelt abgekapselt. Hatte Gleichaltrige gemieden, aus Angst, man spreche sie auf ihre toten Eltern an. Ihre schulischen Leistungen hatten rapide nachgelassen, und erst mit zunehmendem Alter hatte Lena zu ihrem Ehrgeiz zurückgefunden. Plötzlich riss Lena ein seltsames Rauschen aus den Gedanken und katapultierte sie schlagartig in die Gegenwart zurück. »Was war das?« Im nächsten Moment vernahm sie eine rauschende Durchsage, die wie ein Funkspruch klang. Zu ihrer Verwunderung entdeckte sie ein Funksprechgerät unterhalb des Armaturenbretts. »Sie hören den Polizeifunk ab?« Wulf Belling schürzte die Lippen. »Ach was, bloß hin und wieder …«
»Das ist illegal, das wissen Sie«, meinte Lena und verbarg ein Grinsen. Dieser Mann verblüfft mich doch immer wieder , dachte sie und richtete ihren Blick wieder aus dem Fenster.
36
»Die Adresse stimmt aber«, sagte Lena, als sie einige Zeit später vor der Haustür der Wirts standen. Das schlichte, einst weißgestrichene Einfamilienhaus wirkte renovierungsbedürftig. Bis auf die freundlich winkenden Gartenzwerge, die auf dem Kiesweg im Vorgarten standen, gab es hier nichts, was einladend wirkte.
»Wie … wie sehe ich eigentlich aus?«, fragte Belling plötzlich.
Lena drehte sich zu ihm um, während sie ihren Zeigefinger nach der Klingel ausstreckte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er seine Haare hatte schneiden lassen. Seine ausgelatschten Freizeitschuhe hatte er gegen ein Paar Lederschuhe eingetauscht, und seine Hose passte zu seinem neuen Kordjackett. Sogar sein Hemd war sorgfältig gebügelt. »Ist das jetzt so wichtig?«, fragte sie leicht irritiert.
Er druckste herum. »Na ja … ich treffe mich nachher mit Helena.«
»Mit Ihrer Exfrau?«, fragte Lena und lächelte verblüfft. »Wie kommt das?«
»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung.« Er vergrub die Hände in seiner beigen Kordhose und hob die Schultern. »Vielleicht hatte sie bloß einen schwachen Moment oder so … Jedenfalls hat sie mich angerufen und gemeint, es sei an der Zeit, zu reden. Hört sich doch ganz vernünftig an, oder?«
Lena sah, wie er den Ehering an seinem Finger betrachtete. Er trug ihn immer noch. Anscheinend lag ihm doch mehr an seiner Exfrau, als er sich bislang eingestehen wollte.
»Wir treffen uns in unserer alten Kneipe«, erzählte er mit glühenden Wangen und lächelte versunken. »Sie werden es nicht glauben, aber es ist über vierzig Jahre her, seit wir uns dort zum ersten Mal getroffen haben – und diese Kneipe gibt’s immer noch. Ich wette, die haben seitdem nicht mal die Tischdecken gewechselt.«
Lena musste schmunzeln. Als sie erneut klingelte, öffnete sich die Haustür.
Ariane Wirt stand in Pantoffeln mit einem Geschirrtuch in der Hand in der Tür. Ihre Augen waren gerötet und geschwollen. Offenbar hatte sie geweint. Sie trug einen dunklen Pullover, der aussah wie selbst gestrickt. Dazu einen abgetragenen Faltenrock.
»Guten Tag, Frau Wirt. Es tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen wiedertreffen.« Lena streckte Ariane Wirt mit einem Gefühl alter Vertrautheit die Hand entgegen.
»Schön, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen«, meinte Ariane Wirt, wischte sich ihre noch nassen Hände am Geschirrtuch ab und gab Lena die Hand. Ariane Wirts Händedruck war schlaff wie der einer Greisin. Und sofort fiel Lena die Verzweiflung auf, die sich hinter dem tapferen Lächeln von Suzannas Mutter verbarg.
»Als ich Sie zuletzt gesehen habe, gingen Sie noch mit Suzanna zur Schule.«
Lena lächelte sie an. »Ja, ist wirklich lange her …« Sie wies zu Belling. »Das ist Wulf Belling … mein … mein Partner«, sagte sie schnell.
Dieser nickte eifrig, und
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