Opferzahl: Kriminalroman
wissen nicht, wo sie ist. Hätten wir das nicht herausfinden können?«
»Ich hatte noch eine Frage im Kopf, als sie sich ausgeloggt hat«, sagte Söderstedt. »Aber im Übrigen hast du recht.«
»Was haben sie da gemacht? Was zum Kuckuck hatten sie vor? War es wirklich nichts ernst Gemeintes?«
»Sie wollten >ein paar Schwanzfechter bloßstellen<, sagte Söderstedt. »Was soll man sich dabei vorstellen? Sexkäufern die Hosen herunterziehen? Ein paar Freierärsche entblößen? Namen oder Bilder veröffentlichen, um die Erniedriger zu erniedrigen?«
»Was hat Alicia Ljung studiert?«, fragte Norlander.
»Du hast recht, darauf hätten wir vielleicht reagieren sollen«, nickte Söderstedt. »Literaturwissenschaft mit Spezialisierung in Gender Studies an Södertörns Högskola. Außerdem aktive Veganerin und sehr tüchtig im Studium. Ihre Eltern wohnen in Täby, und sie hatte eine Einzimmerwohnung in Vasastan. Das Mädchen hat keinen Sex verkauft. Bestimmt nicht.«
»Sind sie eine Aktivistengruppe gegen Pornografie?«, fragte Norlander.
»So sieht es beinahe aus«, sagte Söderstedt. »Sie haben im Netz Abschaum aufgerissen, um irgendeinen Coup zu landen.«
»Wir müssen intensiv unter Alicias Freunden suchen. Nach einer Gabriella und einer Molly. Molly soll außerdem in der Nähe von St. Eriksbron einen Onkel haben, der Arzt ist. Und wir müssen sehen, ob es jemanden gibt, den wir mit dem Trio Alicia-Gabriella-Molly näher verbinden können, sodass sie ein Quartett ergeben. Und Andreas Bingby müssen wir irgendwo unterbringen. Wahrscheinlich waren Gabriella und er ein Paar - >Gabbi und Andy<, wie sie schrieb.«
»Schwanzfechter«, sagte Söderstedt nachdenklich. »Kommt einem das nicht irgendwoher bekannt vor?«
»Eins noch«, warf Norlander ein.
»Okay?«, fragte Söderstedt.
»Wir sind der Bombe keinen Zentimeter nähergekommen.«
*
Kerstin Holm ging es alles andere als gut. Sie saß in ihrem Zimmer und sah zwei deformierte jugendliche Körper durch die Luft fliegen, immer wieder, wie in einer ewigen Reprise. Ein Loop. Sie sah, wie vor ihren Augen zwei junge Leben ausgelöscht wurden. Das war schrecklich. Nein, schrecklich war kaum das richtige Wort. Es gab kein richtiges Wort. Alle Wörter waren falsch.
Alles Stimmige und Ausgeglichene im Leben war verschwunden.
Es ging ihr ganz und gar nicht gut.
Außerdem hatte es bei dem Loop noch ein anderes Moment gegeben. Einen Arm. Einen Arm, der sich vorstreckte und sie zurückzog, weg von dem heranrasenden Auto.
Paul Hjelms Arm.
Und dann, als sie bei den Toten gestanden hatten und er ihre Anklage beantwortet hatte, die Worte:
»Das Beste ist, wenn ich jetzt verschwinde. Das ist das Beste für alle.«
Wie sie ihm unmittelbar geglaubt hatte. Aufs Wort. Zum Teufel, warum glaubte sie ihm immer aufs Wort?
Verdammte Wörter, dachte sie.
Verdammter Satz:
»Euer beschissenes privates Gespräch hat sie getötet. Ich hoffe, dass es das wert war.«
Ungerecht war noch milde ausgedrückt.
Aber Paul und Jorge hatten ihre Worte ernst genommen, hatten tief in ihre offenbar stark verdunkelten Seelen geblickt. Und Paul Hjelm, Chef der Stockholmer Sektion für interne Ermittlungen, hatte gesagt:
»Du hast den Fahrer gesehen. Das Ganze war unausweichlich. Wenn ihr hineingegangen wärt und ich euch nicht aufgehalten hätte, wärt ihr auch gestorben. Er wollte um jeden Preis diesen Jamshid kriegen. Das kannst du mir glauben.«
Und auch das hatte sie ihm abgenommen.
Sie hatte geweint - scheiße, wie sie an diesem Tag geweint hatte, diese verdammten weiblichen Tränen - und hatte ihm geglaubt. Sie hatte ihn gehen lassen. Sie hatte den Blick des Einverständnisses zwischen den beiden Männern gesehen, die ihr in ihrem Leben am nächsten standen, und hatte ihn akzeptiert. Aber sie war eifersüchtig darauf gewesen. Neugierig.
Und natürlich hatte sie verstanden, dass das, was sich zwischen ihnen abgespielt hatte, wichtig war. Sehr wichtig.
Später waren die Rollen neu verteilt worden, und sie hatte sich um Jorge Chavez kümmern müssen. Es war am Ende zu viel für ihn gewesen. Hjelm war abgezogen und hatte sie mit ihm allein gelassen, und er war zusammengebrochen. Und sie hatte nicht viel mehr tun können, als ihn trösten - direkt neben den deformierten Leichen, den menschlichen Fetzen und ihrem eigenen Chaos.
Als die örtliche Polizei kam und die Sirenen die Stille in Bredäng zerschnitten, war Paul Hjelm schon weit
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