Opferzahl: Kriminalroman
blassgrauen Putz an der Wand hinter ihm vor Ausdrucksfülle Funken sprühen ließ. Im dazu passenden Tonfall fragte er:
»Was würdest du zu einem Umzug nach Stockholm sagen?«
Auf dem Podium saß nun der gleiche Mann, mit der gleichen Neutralität, und sie musste feststellen, dass die Jahre mit ihm entschieden gnädiger umgegangen waren als mit ihr selbst. Dabei war er der Pensionär.
Pensionär a.D. nun.
Bevor diese Neutralität sich erneut wie eine sichere Decke um sie legte, fragte sie sich, ob er wieder als Berater angestellt worden war. Kommissarberater. Oder war er in seines Alters Herbst - vielleicht eher Winter - endlich sogar befördert worden? Polizeiintendentberater? Wie auch immer, sie verspürte trotz der an die hundert kritischen Augen, die auf sie gerichtet waren, keinerlei Druck.
Jan-Olov Hultins väterliche Wirkung auf sie blieb ein Mysterium. Und sie beließ es dabei. Sie sagte:
»Sonst müssen wohl vor allem zwei Dinge näher untersucht werden: Wer sind The Holy Riders of Siffin? Und was bedeutet die Schlusswendung? >Lower your eyes. It makes the mind more focused and gives more peace to the heart.< Der Rest ist ja Allgemeingut über den schwedischen und den westlichen Verfall, vor allem der Frauen.«
Eine kleine zurückhaltende Bewegung ging vor allem durch den Säpo-Teil des Auditoriums, wie eine leichte Frühlingsbrise durch ein frisch vom Eis befreites Schilfdickicht.
Unausgesprochene Zustimmung. Fand Kerstin Holm.
Sie, die damit prahlte, gegenüber polizeilichen Vorurteilen im Allgemeinen und einem genuin frauenfeindlichen Korpsgeist im Besonderen nicht mehr nennenswert empfindlich zu sein.
Jan-Olov Hultin nahm den Blick von ihr, und sie meinte, einen Anflug von Zufriedenheit über sein Gesicht huschen zu sehen, während er sich ans Auditorium wandte.
»Irgendwelche anderen Reflexionen?«, fragte er in den Raum.
Der Säpo-Chef neben ihm konnte natürlich nicht stumm bleiben. Seine Autorität verlangte nach einem Kommentar aus höchster Höhe:
»Mit einer Islamistenzelle dieser Größenordnung in unserem Land ist wahrlich nicht zu spaßen.«
Nicht einmal die allertreuesten Anhänger des Säpo-Chefs sahen sich in der Lage, in dem geäußerten Satz auf Anhieb einen Scherz zu entdecken. Daher nickten sie nach kurzer Bedenkzeit beifällig.
Der Reichspolizeichef schob seine Kunststoffbrille auf die Stirn, auf der man den einen und anderen Schweißtropfen ahnen konnte, und sagte:
»Ich bin überzeugt, dass alle berührten Instanzen sich des Ernstes der Lage bewusst sind. Darf ich dann den Ermittlungsleiter Jan-Olov Hultin bitten, zusammenfassend die Aufgabenverteilung vorzunehmen?«
Er durfte. Mit einem leichten Stirnrunzeln ließ Hultin seine Eulenbrille langsam die enorme Nase hinabgleiten. Zwei Sekunden, nachdem sie zum Stillstand gekommen war, sagte er, den Blick in ein handgeschriebenes Blatt Papier vertieft:
»Wir müssen folgendermaßen vorgehen. Eins: die technische Beweisführung. Bombe, Sprengstoff et cetera fallen hauptsächlich in den Verantwortungsbereich der Säpo, selbstverständlich in enger Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Kriminaltechnischen Labor und Brynolf Svenhagen. Ebenso selbstverständlich das übliche nachrichtendienstliche Material, das die enge Zusammenarbeit mit internationalen sicherheitspolizeilichen Kontakten erbringt. Wie kommt es beispielsweise, dass es vorab keinerlei Hinweise auf die Tat gab? Zwei: die Identifikation. Vor allem natürlich des mutmaßlichen Selbstmordattentäters - aber auch der übrigen Opfer. Hier liegt die Hauptverantwortung bei der Reichskriminalpolizei, nicht zuletzt ihrer Interpolabteilung. Drei: allgemeine Spurensuche. Wir brauchen so viel Klarheit wie möglich über die Ereignisse im Wagen Carl Jonas entlang der Linie von Hässelby Strand, wo der Zug um 0.21 Uhr abfuhr, dreiundzwanzig Minuten, bevor er die Station Fridhemsplan erreichte, und vierundzwanzig, bevor der Wagen kurz vor der St. Eriksbro gesprengt wurde. Leider - oder vielleicht zum Glück - handelt es sich ja um die U-Bahn-Linie 19, die bis zum Fridhemsplan an nicht weniger als sechzehn Stationen hält. Alle diese Stationen müssen besucht und Zeugen gefunden werden. Diese Aufgabe ist wie gemacht für die Stockholmer Polizei, nicht zuletzt unter Einschaltung der Medien. Und schließlich vier: der Bekenneranruf. Er ist ja eben erst eingegangen, die Frage der Zuständigkeit hat sich bisher also noch gar nicht gestellt. Ich schlage jedoch vor,
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