Opferzahl: Kriminalroman
ihrem damals ziemlich nomadenhaften Leben. In ironischer, nicht zuletzt selbstironischer Zuneigung tauften sie den lächerlichen Raum auf den Namen Kampfleitzentrale. Und derjenige, der sie alle aus verschiedenen Ecken Schwedens zusammengesucht und dort platziert hatte, war ebendieser Mann, der jetzt dort saß und auf sie wartete. Auf seinem altgewohnten Platz in der Kampfleitzentrale.
Sein Name war Jan-Olov Hultin.
»Was habt ihr unterwegs gemacht?«, fragte er barsch. »Erdbeeren am Wegesrand gepflückt?«
»Was haben die sich gedacht?«, erwiderte Arto Söderstedt. »Wie viele Steine haben sie umgedreht, bis du herausgekrochen kamst, alter Mann?«
»Ich glaube, die haben einfach nur jemanden gesucht, der nichts zu verlieren hat«, sagte Hultin ausdruckslos. »Setzt euch.«
Gehorsam nahmen sie Platz, in kleine Gruppen verteilt. Er wartete, bis sich auch Kerstin Holm einen Stuhl beim Fußvolk gesucht hatte. Dann sagte er:
»Arto ist also ein halbes Jahr lang Chef gewesen? Wie war das?«
»Es war ein permanentes Leiden«, sagte Viggo Norlander schlicht.
»Kann ich mir fast vorstellen«, sagte Hultin, und böse Zungen sollten später behaupten, dass er in diesem Augenblick lächelte. Er selbst würde es bis in alle Ewigkeit abstreiten.
»Ich hatte jedenfalls ein schönes halbes Jahr zusammen mit meinem Sohn«, sagte Kerstin Holm friedlich. »Aber dann war es natürlich eine ziemliche Mühe, den Betrieb wieder auf die Beine zu bringen.«
»Böswillige Verleumdungen«, sagte Arto Söderstedt. »Der Reichspolizeichef war selbst hier unten und hat mir dafür gedankt, dass ich es geschafft habe, in diesem Saustall Ordnung zu schaffen.«
Er wurde angestarrt. Genügend lange, dass er gezwungen war zu sagen:
»Nein. Das ist gelogen.«
»Tatsächlich war nichts in Ordnung«, beharrte Norlander. »Stell dir eine Organisation vor, die aussieht wie Artos Gehirn.«
»Ich stelle es mir vor«, antwortete Hultin unbewegt.
»Chef zu sein ist schwerer, als man denkt«, sagte Söderstedt, aber er sagte es ziemlich gutmütig.
»Ja, ja«, sagte Hultin und räusperte sich. »Ich bin jedenfalls gekommen, um euch in aller Eile zu sagen, dass ihr arbeiten sollt wie gewohnt.«
»Wie gewohnt?«, fragte Kerstin Holm. »Wir sollten uns doch auf den Telefonanruf und nichts anderes konzentrieren?«
»Denkt an die Grauzonen«, sagte Hultin und stand auf.
»Ich erwarte, dass ihr und sonst niemand diesen Fall löst. Ihr habt volle Handlungsfreiheit. Ich habe euch nicht ausgesucht, damit ihr herumsitzt und faulenzt.« Und dann war er verschwunden.
Kerstin Holm stand auf und streckte sich. Sie ging nach vorn zum Podium und erklomm das berüchtigte Katheder. Und während sie sich hinsetzte, sagte sie:
»Also, Leute. Hultin hat da ein veritables Büfett für uns angerichtet. Am besten, wir futtern alles auf. Die Voraussetzungen für qualifizierte Polizeiarbeit sind die denkbar besten. Alle Basisfakten werden auf euren Bildschirmen erscheinen, und niemand kann so tun, als wäre er nicht informiert. Nicht einmal die Sicherheitspolizei. Unser Job besteht darin, das Puzzle zusammenzusetzen und Schlüsse zu ziehen. Nur darin. Also müssen wir lediglich anfangen. Zuerst aber verschaffen wir uns gemeinsam einen Überblick über die Fälle, die wir noch am Laufen haben. Können wir sie liegen lassen? Sara und Lena, wie steht es um den Serienvergewaltiger vom Hagapark?«
Kerstin Holm fand, dass Sara Svenhagen ein wenig erschöpft aussah, was sicher nicht nur der Einwirkung des Regens auf ihr an sich dezentes Make-up zuzuschreiben war. Zwar war das kurzgeschnittene blondierte, wieder einmal ziemlich grünliche Haar in gehöriger Unordnung, aber das war nicht alles. Sie sah müde aus, als leide sie irgendwie, was Kerstin bei ihr nicht gewohnt war.
Vielleicht war es nur eine Sinnestäuschung.
Lena Lindberg sah dagegen frischer aus als seit Langem. Kerstin hatte zwar nie ganz durchschaut, was sie in den letzten Jahren gequält hatte, aber sie hatte begriffen, dass es etwas Größeres sein musste. Eine Art von Lebenskrise. In der ein älterer norwegischer Exoffizier namens Geir eine Rolle gespielt hatte. Lena gehörte nicht zu denen, die verschwenderisch mit privaten Informationen umgingen, aber dieser Geir schien jetzt jedenfalls aus dem Spiel zu sein. Und damit offenbar ein großer Teil des Jochs, das ihre Schultern niedergedrückt und ihre Schritte beschwert hatte. Zum ersten Mal, seit sie Mitglied der A-Gruppe
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