Opferzahl: Kriminalroman
denen sie arbeiten«, sagte Jon Anderson trotzig. »Andere huschen nur hindurch.«
»Du hast ein paar Phrasen aufgeschnappt und hältst dich für hochgebildet«, sagte Jorge Chavez. »Toll, wenn man ein gesundes Selbstbild hat.«
»Xian sheng ist ein Titel, der Respekt ausdrückt, er bedeutet ungefähr so viel wie >Herr< oder sogar >Meister<.«
»Der Mann importiert kleine Kinder und verkauft sie zum Höchstpreis an Pädophile, und du nennst ihn Meister. Du tickst doch nicht richtig.«
»Ich habe schon längst gemerkt, dass Ironie nicht Ihre starke Seite ist, Xian sheng Chavez.«
»Und ich sage dir eine alte taoistische Weisheit«, entgegnete Chavez. »Fuck off.«
Erst jetzt verstand Kerstin Holm, dass sie sich amüsierten. Tatsache war, dass der neugierige, lange, offen homosexuelle Jon Anderson und der routinierte, dreißig Zentimeter kleinere Latino Jorge Chavez eine raffinierte polizeiliche Partnerschaft entwickelt hatten. Wenn sie nicht sofort begriff, dass der Charakter des Dialogs ein Bestandteil dieser Partnerschaft war, dann nur deswegen, weil sie eingerostet war. Immerhin war sie erst vor einer Woche zurückgekommen.
»Muss ich es also so verstehen, dass der Fall Mo Yin abgeschlossen ist?«, fragte sie friedlich.
»Yin Mo«, korrigierte Jon Anderson.
»Es ist natürlich ein laufender Fall«, sagte Jorge Chavez. »Das Einströmen chinesischer Kinder ist durch die Anwesenheit schwedischen Botschaftspersonals auf dem Flugplatz von Peking etwas gebremst worden. Aber es hat nicht den Anschein, dass wir Dong Liang irgendwie ausfindig machen können.«
»Gut«, sagte Kerstin Holm und bereute es sofort. »Spitze«, sagte Chavez mürrisch.
»Gut natürlich in dem Sinne, dass ihr euch mit Haut und Haar der Bombe in der U-Bahn widmen könnt. Mein Vorschlag ist, dass ihr euch primär auf den Telefonanruf konzentriert, genauer gesagt, woher er kam. Bedient euch der avancierten Methoden der Tele- und Datentechnik.«
»Und der Unterstützung der technischen Abteilung«, setzte Jon Anderson hinzu.
»Und zum Schluss Gunnar«, sagte Kerstin Holm und sah ihren geliebten Riesen an. »Du hast einen ganz besonderen Fall gehabt?«
»Schlägerei«, sagte Gunnar dumpf.
»Und wie läuft es?«
»Es ist vorbei. Ich habe die letzten Tage in Papier gewühlt. Ich bin bereit für etwas, das mehr Spaß macht.«
»Wie zum Beispiel Terrorismus in Stockholm«, sagte Jorge Chavez.
»Ihr kennt den Fall«, sagte Nyberg ungerührt. »Er sagt einiges über unsere Zeit aus. Junge Gewerkschaftschefin benimmt sich in einem dieser neuen, ziemlich dubiosen Casinos daneben, wird rausgeschmissen, gerät handgreiflich mit dem Türsteher aneinander, stößt rassistische Beleidigungen aus, wird verprügelt, landet in der Ausnüchterungszelle, erstattet Anzeige und wird selbst angezeigt. Ich wurde hinzugezogen, um aufzuklären, was wirklich geschehen war, und das ist ein Morast von der schlimmsten Sorte, die unser Land zu bieten hat: altmodische Besäufnisse, politische Korruption, Frauenhass, latenter Rassismus, kriminelle Kneipenszene, Türstehermentalität, Vorstellungen davon, etwas Besonderes zu sein.«
»Gab es nicht eine Zeitungskolumne, die ziemliches Aufsehen erregt hat?«, fragte Kerstin Holm.
»Man muss schon fast im Erziehungsurlaub sein, um sie nicht gesehen zu haben«, knurrte Jorge Chavez.
»Ich war nicht im Erziehungsurlaub«, sagte Kerstin Holm ruhig.
»Veronica Janesen in der Abendzeitung«, Gunnar Nyberg nickte. »Sie nennt die Männer immer >Schwanzfechter<. Sie gehört zu diesem enorm einflussreichen Kreis junger Zeitungsschreiber, die das intellektuelle Niveau im Land bestimmen. Sie ist vermutlich eine der Aggressivsten und vereinigt einen militanten Feminismus mit einem ziemlich reaktionären Menschenbild. Sie schrieb, das Verhalten der Gewerkschaftschefin sei bewundernswert gewesen. Sie habe nur gewagt, sich wie ein richtiger Kerl zu benehmen, so wie richtige Kerle sich immer benommen haben und sich täglich zu Hunderten benehmen, überall in Schweden. Aber jetzt sei die Hölle los. Nur weil sie ein Frau sei.«
»Da liegt sie ja nicht ganz falsch«, sagte Lena Lindberg.
»Meinetwegen«, gab Gunnar Nyberg zu und zuckte mit den Schultern. »Aber in der Verlängerung der Argumentation liegt doch ein reiner Rachegedanke. Historisch müssen also alle Dummheiten erst einmal wiederholt werden, ehe wir neu anfangen können. Jetzt sind die Frauen an der Reihe, Idioten zu sein. Wollt ihr das
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