Opferzahl: Kriminalroman
Reiter scheint man auch nicht ausmachen zu können.«
»Ich weiß«, sagte Kerstin Holm. »Ich habe das gerade durchgesehen.«
»Dagegen fällt mir auf, dass die Nachricht vom Telefonanruf der heiligen Reiter von Siffin bereits bei beiden Abendzeitungen angekommen ist. Ist das ein neuer Weltrekord in Leckage?«
»Mannomann«, sagte Holm, ohne besonders überrascht zu sein. »Seit Jan-Olovs Ermahnung ist nicht mehr als eine halbe Stunde vergangen.«
»Jedes Leck wird genauso minutiös untersucht wie die U-Bahn-Sprengung selbst«, zitierte Nyberg aus der Erinnerung. »>Konzentriert euch auf die Aufgabe und haltet dicht.< Das ist sicher die Säpo.«
»Ja, ja«, seufzte Holm. »Kommst du?«
»Wohin?«, fragte Gunnar Nyberg und lehnte sich auf dem Stuhl zurück.
»Zu Carl Jonas selbst«, sagte Holm. »Arto und Viggo kommen auch mit.«
»Viggo und Arto heißt es«, sagte Nyberg und zog seinen alten abgenutzten Lumberjack an. Er hing inzwischen ganztags im Polizeipräsidium, neben dem ungleich moderneren Jackett, und er betete zu den höheren Mächten, dass er im Dienst nicht zufällig Ludmila begegnete. Außerhalb des Dienstes dagegen, mit modernem und feinem Jackett, gab es keinen Menschen in der Welt, dem er so gern begegnete wie seiner Partnerin Ludmila Lundkvist, Dozentin für Slavistik an der Universität Stockholm und mit ihm Besitzerin eines kleinen Hauses in den Hügeln im nördlichen Teil der Insel Chios im Ägäischen Meer. Den abgenutzten Lumberjack hatte Gunnar Nyberg nicht weniger als vier Mal aus dem Müllsack gefischt, bis er zu der Einsicht gelangt war, dass es das Beste sei, die alte Lieblingsjacke heimlich zu tragen. Also im Dienst. Beim letzten Mal hatte der Müllsack sogar schon im Abfallschacht gelegen, und er hatte den Vermieter benachrichtigen und eine lange förmliche Prozedur mit tief skeptischen Amtspersonen durchstehen müssen, bevor er Zugang zum Abfallraum erhielt. Während er sich immer tiefer durch immer übler stinkenden Abfall gegraben hatte - und dabei die heimlichen Neigungen von mindestens drei Nachbarn identifiziert, von Pistazienmissbrauch bis hin zu Gummischlüpfern -, hatte er daran gedacht, dass es besser sei, die Jacke zur chemischen Reinigung zu bringen. Sicher hatte er auch an die seltsamen Erlebnisse des Kollegen Arto Söderstedt vor einigen Jahren in einem ähnlichen Müllschacht in einem Palast in Mailand gedacht - aber vor allem hatte er an die Jacke gedacht. Er hatte sie zu einer chemischen Reinigung gebracht, wo sie im Hinblick auf ihren Zustand einer Schnellbehandlung unterzogen worden war, und als er sie wiederbekommen hatte, war sie nicht nur zwei Nummern zu klein gewesen, sondern auch zerfranst wie ein Kleidungsstück aus den Sechzigerjahren. Er hatte sie mit ins Präsidium genommen, die losen Fäden einfach abgeschnitten, seinen wohlbeleibten Korpus in die Miniaturjacke gezwängt und die Fasern zu enormer Dehnleistung gezwungen. Jetzt trug sie sich ausgezeichnet, auch wenn er allmählich die Einsicht akzeptieren musste, dass sie jeden Moment zerfallen konnte.
Diese Jacke zog er nun über seinen großen, aber schlank gewordenen Körper - er hatte ein Jahr GI-Methoden hinter sich, und es war ihm gelungen, weitere acht Kilo abzunehmen - und sagte:
»Was Besonderes, das wir uns ansehen sollen?«
Kerstin Holm sah zu ihm auf und meinte:
»Ludmila tut dir wirklich gut, Gunnar.«
Er runzelte die Stirn und sagte:
»Das ist denn doch nicht nur ihr Verdienst.«
»Nein?«
»Es ist auch die Jacke.«
»Aber zwischen euch ist alles gut?«
»Alles ist sehr, sehr gut.«
Kerstin Holm nickte freundlich, und sie traten auf den Flur hinaus. Genau gleichzeitig sagten sie:
»Wir wollen uns nur ein möglichst realistisches Bild vom Tatort machen.«
Beziehungsweise:
»Aber um Bengt Äkesson steht es nicht so gut, habe ich gehört.«
Holm blinzelte.
»Entschuldigung«, sagte Nyberg. »Das hörte sich wohl gefühlloser an, als ich es gemeint habe.«
»Schon gut, Gunnar, ich habe mich daran gewöhnt. Ich bin bei ihm, so oft ich kann, aber ich weiß nicht, wie lange ich noch die Kraft habe.«
»Er hat verdammt viel Glück gehabt, dass er überlebt hat.«
»Glück? Ich weiß nicht. Es wäre wohl besser gewesen, wenn er gestorben wäre.«
Nyberg sah sie an. Sie sah längst nicht mehr so mitgenommen aus wie vor einem halben Jahr, als sie wegen ihres Vorgehens in jenem Fall suspendiert worden war, wegen dem ihr geliebter Bengt Äkesson
Weitere Kostenlose Bücher