Opferzahl: Kriminalroman
bekomme. Zeit, das mir Nahe zu retten.
Aber indem ich weiterarbeite mit dem, was ich liebe, überlebe ich das hier.
Ich werde nie aufhören, mir selbst Vorwürfe zu machen. Selbst wenn dies, gegen jede Vermutung, ein positives Ende finden sollte, werde ich nicht aufhören, mir Vorwürfe zu machen. Es ist mein Fehler. Ich habe etwas Vorschub geleistet, dem ich nicht Vorschub hätte leisten dürfen. Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist, aber es ist klar, dass ich es war, der die Tür geöffnet hat. Weil ich bin, der ich bin, und tue, was ich tue.
Du hast mich erwischt, du Teufel.
Jetzt werde ich dich erwischen.
Auch durch einen geliebten Menschen.
*
Paul Hjelm klappte seinen Laptop zu und stöpselte sich mit großer Sorgfalt die Kopfhörer in die Ohren. Da die Umstände darauf hindeuteten, dass ihm eine gewisse Wartezeit bevorstand, hatte er die Situation sehr geschickt arrangiert. Das Kabel des MP3-Players zu den Kopfhörern führte in eleganter Bucht um das Tonbandgerät auf dem Verhörtisch. Wenn er ertappt wurde, würde es so aussehen, als habe er die Tonbandaufnahme des vorigen Verhörs abgehört.
Denn dieses hier war das dritte. Und er wusste, wie lange er aller Wahrscheinlichkeit nach würde warten müssen.
Arvid Gelbweiß - oder Arvid Lagerberg, unter welchem Namen ihn zumindest der eine oder andere Überwinterer in der einen oder anderen astronomischen Institution im Land besser kennen würde - war kein Mann regelmäßiger Gewohnheiten. Er war überhaupt kein Mann von Gewohnheiten. Er war einer, der ungefähr jedes zehnte Mal, wenn er wach war, eine unerwartete und unübertroffene Klarheit an den Tag legte. In der übrigen Zeit herrschte eine Art von unerhörtem Chaos.
In den Kopfhörern sang eine helle Männerstimme:
Karma police, arrest this man, he talks in maths,
he buzzes like a fridge, he's like a detuned radio.
Paul Hjelm stoppte die Musik, reckte sich und sah zu der tristen Decke des Verhörraums hinauf.
Diese Musik hatte ihn die letzten acht oder neun Jahre verfolgt. Er machte selbst keine Musik, höchstens privat, wenn er auf einem Klavier klimperte - anders als die Chorsänger Gunnar Nyberg und Kerstin Holm oder der vielseitige, inzwischen aber offenbar pensionierte Bassist Jorge Chavez. Nein, Paul Hjelm war Musikhörer. Zuerst hatte ihn der Jazz gefesselt, der klassische, komplexe Jazz eines Miles Davis oder Thelonius Monk. Er war seinem Herzen trotz allem immer noch am nächsten. Im letzten Jahr hatte er vorwiegend den schwedischen Meister Bobo Stenson gehört, war aber auch an Wynton Kelly hängen geblieben, dem etwas weniger profilierten der beiden Pianisten in Miles Davis' klassischem Kind of Blue-Album. Er hatte sich die Noten des meisterhaften Pianosolos aus dem Stück »Freddy Freeloader« aus dem Netz geladen und sie durchgeackert. Und dann hatte er, auch aus dem Internet, eine Platte mit Kelly und dessen eigener Band heruntergeladen, aus derselben Zeit, dem Grenzland zwischen Fünfziger- und Sechzigerjahren. Die Platte hieß Pot Luck und zeigte einen ganz einzigartigen Pianisten in voller Freiheit.
Aber ein anderer Teil von ihm liebte die klassische Musik, am liebsten Bach oder Mozart, denn die etwas schwieriger zu hörende atonale Musik bekam er von anderer Seite. Genauer gesagt von der Popmusik. Er hatte sehr lange gebraucht, um einzusehen, wie phantastisch Popmusik sein konnte, jenseits der Hitlisten im Schatten des immer matteren MTV. Eine Zeit lang hatte er sich in der aktuellen Indie-Szene festgehört und war nahe daran gewesen, einer dieser alten Sonderlinge zu werden, die in obskuren kleinen Klubs unter den Twens auftauchten. Vor allem aber liebte er das Grenzgebiet zwischen Jazz und Pop. Nicht unbedingt Jazzrock und Fusion - Büches Brew des späten Miles Davis oder Weather Report waren eher faszinierend als gut -, auch wenn er eine gewisse Vorliebe für eine abgefahrene Band wie Brand X hatte, die Hobbyband des fabelhaften Schlagzeugers Phil Collins, ehe er ein leichtgewichtiger Hitschreiber geworden war. Nein, was er suchte, war weniger experimentell und schwierig. Eigentlich war es sein bester Kumpel Jorge Chavez, der ihm diesen Weg geöffnet hatte, mit seinem ständigen Reden über The Police, das galaktischste Trio der Popgeschichte. Er selbst war, auf der Seite des Jazz, am Esbjörn-Svensson-Trio hängen geblieben und schließlich, auf der Seite des Pop, ganz und gar auf die Band Radiohead abgefahren.
Beim Durchforsten des Werks
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