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Opferzahl: Kriminalroman

Opferzahl: Kriminalroman

Titel: Opferzahl: Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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das Recht zu haben, gewisse Dinge zu vergessen.«

    »Nein«, sagte Lagerberg und sah auf. »Nein, ich werde nie wieder Musik hören können. Dieses Recht habe ich am dreiundzwanzigsten Oktober 1960 um fünf nach vier Uhr in der Nacht verwirkt.«

    Hjelm beobachtete ihn und sagte schließlich:

    »In fünf Jahren wird das ein halbes Jahrhundert her sein, Arvid. Das ist eine lange Zeit. Und es war Krieg. Der Krieg macht etwas mit den Menschen, was man nicht verstehen kann.«

    »Ich verstehe genau, was ich getan habe«, erwiderte Lagerberg glasklar. »Ich habe fünf Frauen vergewaltigt und sie danach getötet. Ich habe es nie jemandem erzählt.«

    Paul Hjelm sog die Luft tief ein und hoffte, dass Arvid Lagerberg es nicht hörte. Es war nämlich ein entsetztes Stöhnen. So etwas erlaubte er sich nicht oft.

    Er sagte:

    »Ich glaube, Ihre Wolke ist gerade sehr viel kleiner geworden.«

    »Nein«, antwortete Lagerberg und schüttelte seine gewaltige gelb weiße Mähne. »Nein, erst müssen Sie mich einsperren. Erst muss ich vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Ich habe an einem Völkermord teilgenommen, der dem schwedischen Rechtswesen egal ist. Aber vielleicht nicht dem internationalen. Ich will vor den Kriegsgerichtshof in Den Haag und berichten. Erst dann kann sie kleiner werden.«

    »Ich glaube nicht, dass die Sie dort haben wollen«, sagte Hjelm so verbindlich wie möglich. »Erzählen Sie es stattdessen mir.«

    »Sperren Sie mich dann ein?«

    »Aber ja«, sagte Paul Hjelm mit gekreuzten Fingern.

    »Ich war ein neunzehnjähriger Jungspund aus Askersund. Ich träumte nicht von Frauen, ich träumte von Sternen und Sternbildern und Sternenhaufen. Alles, was ich wollte, war, Astronom zu werden. Ich war überhaupt noch nie in der Nähe einer Frau gewesen. Ich wurde einberufen, diente mein Jahr ab und hängte noch ein bisschen UN-Dienst dran. Es hieß, das sei eine gute Möglichkeit, um sich ein wenig in der Welt umzusehen. Wir wurden sofort in den Kongo geflogen, in die Provinz Katanga. Dort herrschte der totale Krieg, ein brutaler Krieg, und unsere Kompanie wurde in den Busch geschickt, ohne dass wir recht wussten, was vor sich ging.

    Plötzlich war da eine Menge Menschen, die uns töten wollten. Das war so seltsam, wir dachten ja, wir seien dorthin geschickt worden, weil wir dort erwünscht wären. Und wir schliefen nicht mehr. Wir hatten eine Sterbensangst und waren durchnässt und verfroren und mitten im tiefsten Dschungel vor Schlafmangel völlig kaputt, und das war zu viel. Ich erinnere mich, dass ich explodierte. Es war in einer Nacht, als wir nach feindlichen Soldaten in einem Dorf suchen sollten. Ich erinnere mich, wie wir uns aus den Augen verloren, die Kameraden und ich. Ich erinnere mich, dass ich allein mit dem Rücken zu einer Art Strohwand stand und wie die Strohhalme wie Kanülen in meinen Rücken drangen, und ich erinnere mich, wie einer der Kameraden wie aus dem Nebel heraus rief: >Hier sind nur Frauen.< Und da warf ich mich mit erhobener Waffe in die Strohhütte. Dort saß eine schwarze Frau in einer Art von Schilfkleid und weinte, und ich weiß nicht, was geschah. Ich habe fünfundvierzig Jahre lang versucht zu verstehen, was damals passierte. In mir. Ich hatte einen Ständer, verstehen Sie. In dieser Situation, als fast nichts im Körper funktionierte, wie es sollte, und es wirklich gar nichts gab, was einen erregen konnte, da bekam ich einen Ständer. Eine Erektion von einer Art, wie ich sie sonst nie, weder vorher noch nachher, erlebt habe. Ich riss ihr die Kleider herunter, und sie heulte etwas in einer merkwürdigen Sprache, als ob sie ein Teufel sei, und ich schlug sie, bis sie still wurde, und dann drang ich in sie ein und ejakulierte in ihr, und danach tötete ich sie. Aber die Erektion ließ nicht nach. Verstehen Sie? Sie war stärker als vorher. Ich lief weiter, in die nächste Hütte, und auch dort war eine Frau allein. Und so ging es weiter. Fünf Mal. Fünf Mal habe ich es gemacht. Können Sie das verstehen? Ich habe fünfundvierzig Jahre lang gelebt, ohne ein Recht dazu zu haben. Danach dachte ich, es würde ein Wahnsinnsbohei geben, mit Gerichtsverfahren und Kriegsgericht und Artikeln in den Zeitungen und Skandal für meine armen einfachen Eltern in Askersund. Oder dass mich zumindest meine Kameraden schief ansehen würden. Aber als ich sie wiederfand, begannen sie nach und nach zu erzählen, dass sie so ziemlich das Gleiche getan hatten. Ich war ganz und gar nicht der Einzige.

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