Opferzahl: Kriminalroman
zu schälen. In dem Saal befanden sich zwei Betten, die durch einen Kunststoffvorhang getrennt waren. An beiden Kopfenden standen Beatmungsgeräte.
Aber nur das eine war in Betrieb.
Das andere war abgeschaltet.
»Liegt er da noch?«, stieß Söderstedt aus.
»Der verantwortliche Arzt war bislang nur hier, um die Todesnachricht zu überbringen.«
»Ich dachte, Sie wären die verantwortlichen Ärzte.«
»Wir sind verantwortlich für die verantwortlichen Ärzte«, sagte das Arztduo und überließ die Ermittler sich selbst.
Eine Krankenschwester tauchte auf und führte sie zu dem Bett, an dem das Beatmungsgerät noch lief. Der Mann, der dort lag, war jung - das hatten sie gelesen -, aber er sah nicht jung aus. Er sah nicht so aus, als ob er überhaupt ein Alter hätte. Alles, was ein Indiz für sein Alter hätte sein können, war mit Schnittwunden und Verbänden bedeckt, und die Schläuche des Beatmungsgeräts saßen an einer Stelle, die ganz und gar nicht die Nase zu sein schien, eher das Ohr.
»Braucht er wirklich ein Beatmungsgerät?«, fragte Söderstedt.
»Stellen Sie eine medizinische Entscheidung infrage?«, gab die Krankenschwester empört zurück. Als sei eine heilige Schrift vor ihren Augen entweiht worden.
»Ich versuche nur zu verstehen, welche Art Verletzungen seine Fähigkeit zu atmen so drastisch eingeschränkt haben.«
»Es ist kompliziert und multipel«, sagte die Schwester. »Es sind Brandverletzungen und Schnitt- und Quetschwunden und Frakturen in einer schwierigen Verbindung.«
»Aber keine Hirnverletzung?«
»Nicht, soweit die Ärzte es beurteilen konnten.«
»Ist einer von den beiden irgendwann bei Bewusstsein gewesen, oder war er zu irgendeiner Form von Kommunikation fähig?«
»Nein«, sagte die Krankenschwester. »Keine Chance.«
»Keine Chance?«
»Nein, bisher nicht, beide waren viel zu schlimm zugerichtet. Aber was Andreas Bingby betrifft, gibt es wohl noch Hoffnung. Wir müssen abwarten. Aber soweit es sich beurteilen lässt, kann das Monate dauern.«
Ein leises metallisches Rütteln war im Hintergrund zu hören.
»Was zum Teufel!«, rief Viggo Norlander.
Söderstedt drehte sich rasch um und sah seinen Kollegen an. Der stand auf der anderen Seite des Bettes und zeigte hinein. Da war nichts. Die Augen des Verbundenen waren geschlossen, und er sah genauso aus wie vorher.
»Er hat die Augen geöffnet«, sagte Norlander. »Und dann hat er gezuckt.«
»Wirklich?«, fragte Söderstedt und sah die Krankenschwester an. Sie erbleichte sichtlich, schlug die Hände vors Gesicht und stürzte aus dem Saal. Die beiden Polizisten folgten ihr auf den Flur, doch sie war verschwunden. Sie suchten eine ganze Weile, bis sie die Schwester in einem Pausenraum fanden. Dort saß sie mit den Ellbogen auf dem Tisch und dem Gesicht in den Händen und weinte.
Söderstedt hockte sich neben sie und sagte:
»Es ist nicht schlimm, es ist nicht sicher, dass er uns gehört hat.«
Sie nahm die Hände vom Gesicht und sagte mit verweinten Augen:
»Man glaubt, man sei professionell, und dann macht man so einen Anfängerfehler. Und redet über schlechte Prognosen in Gegenwart des Patienten. So etwas darf nicht passieren.«
»Es war mein Fehler«, sagte Söderstedt tröstend. »Ich hätte da drinnen nicht anfangen dürfen zu reden.«
»Sie sind Polizist«, sagte die Schwester. »Ich bin professionelle Krankenschwester. Mir darf so etwas nicht passieren.«
»Wenn es ein Trost ist, die Polizei macht ungleich schlimmere Fehler.«
»Ich war ganz sicher, dass es keine Rettung für ihn gibt«, sagte die Schwester und schüttelte den Kopf.
»Wir nehmen im Leben zu viel für gegeben hin«, sagte Söderstedt und richtete sich auf.
Er strich der Schwester leicht über den Arm. Sie ließ es geschehen, er sagte:
»Nehmen Sie es nicht zu schwer. Sehen Sie es im Verhältnis zu dem Nutzen, den Sie bewirken, und dem Trost, den Sie geben.«
Viggo Norlander zog Arto Söderstedt in den Korridor. Er hatte das Gefühl, dass es an der Zeit war, die Schwester allein zu lassen.
»Du bist ein viel sensiblerer Kerl, als dein Ruf glauben lässt«, sagte Norlander und legte den Arm um seinen mageren Kollegen.
»Ich habe fünf Kinder und eine Ehe, die nach zwanzig Jahren noch immer gut funktioniert«, sagte Söderstedt dumpf. »Ein bisschen psychologisches Verständnis werde ich ja wohl mitgekriegt haben.«
Norlander ließ den Arm aufs Söderstedts Schulter liegen, und sie wanderten wie
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