Opferzahl: Kriminalroman
nicht mehr.« Lagerberg schrie es fast. »Sie waren viele, sehr viele.«
»Wo haben Sie gesessen und sie gesehen?«
»Auf der Straße, ich weiß nicht. Ich will jetzt schlafen. Ich will einen Apfel, einen von den guten, gelbroten. Die sind am besten. Sie fallen bald runter.«
Arvid Lagerbergs Kinn sank wieder auf seine Brust herab, und so blieb er sitzen. Er sagte:
»Wissen Sie, wie groß Farne werden können?«
Da gab Paul Hjelm auf und rief den Wärter. Während dieser den Mann wie einen gelbweißen Sack mehr oder weniger hochhob, fragte Lagerberg:
»Sperren Sie mich jetzt ein?«
»Das habe ich doch versprochen«, sagte Paul Hjelm. »Obwohl die Wolke immer noch da ist. Sie müssen darüber nachdenken, wo Sie den Polizisten gesehen haben, wenn sie verschwinden soll.«
Arvid Lagerberg starrte ihn eine Weile an und sagte schließlich, viel klarer, als er es eigentlich vermochte:
»Ich will es versuchen.«
Dann gingen sie.
Paul Hjelm blieb allein zurück. Er zog die Kopfhörer aus der Tasche und stöpselte sie dorthin, wo sie hingehörten.
Er dachte: Farne können bis zu dreißig Meter hoch werden. Es gibt tatsächlich mehrere Hundert Arten von Baumfarnen.
In dem Augenblick, als er den Laptop aufklappte, hörte er Thom Yorkes seltsame Stimme:
For a minute there, I lost myself, I lost myself.
*
Die Dämmerung kam so langsam. Es dauerte erstaunlich lange, bis das grüne Käppi mit dem großen Schirm überflüssig wurde - und noch länger, bis die Sonnenbrille mit dem goldenen Gestell sich wie eine Belastung anfühlte. Der Mann, der sich Ata nannte, saß in dem unauffälligen Mietwagen und meinte, die Zeit in behäbig wehender, vermutlich spezifisch nordischer Form über den Himmel rollen zu sehen. Er hatte sie vorher nie so gesehen.
Aber er war auch noch nie zuvor im Norden gewesen.
Nicht, dass es eine Rolle spielte. Die Welt war sowieso eine Illusion, ein etwas unbequemer Wartesaal, in dem man auf das Fahrzeug wartet, das einen ins wirkliche Leben hinüberträgt. Gerade weil die Erde ihn eigentlich nicht berührte, bewegte Ata sich so geschmeidig auf ihr. Es spielte keine Rolle, wo er sich befand, wie kalt oder warm es war - oder wie lang die Augustdämmerung dauerte, was das betraf. Er war ganz einfach nicht richtig da. Deshalb war er so effektiv. Deshalb bekam er jetzt diese Aufträge.
Ata wartete. Und währenddessen ging kein Gedanke durch seinen Kopf. Höchstens ein Mantra, eine ewige Schleife, in der die einzige Wahrheit immer wieder von vorn abgespult wurde. Aber diesen westlichen Strom von ständig wechselnden Gedanken, Gefühlen, Eindrücken, Begierden, Einfällen, die unseren Alltag ausmachen, den kannte er nicht.
Er war nicht nötig.
Er wusste genau, was nötig war. Das genügte. Es definierte seine Welt endgültig.
Ata hatte sich einmal dafür entschieden, die Grenze zu überschreiten. Aber sein erwarteter Übergang ins ewige Leben, das wahre Leben, war auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Als alles schon beschlossen war und alle Abschiede genommen waren, waren seine Talente erkannt, verwaltet, veredelt worden. Und das akzeptierte er, auch wenn es letztlich keine größere Rolle spielte. Er war für dieses Leben nicht geeignet. Auch wenn er sich darauf verstand, jedenfalls auf gewisse Teile davon.
Er verstand sich darauf zu töten.
Vielleicht hätte er diesbezüglich moralische Aspekte abwägen müssen. So gut wie jeder Mörder hat irgendwann einmal mit moralischen Aspekten gerungen - und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass sie sekundärer Natur sind. Für Ata hatte diese Frage nie existiert. Für ihn war das Sichherumschlagen bereits bei seiner Geburt überstanden.
Dieses Warten war er gewohnt. Er kannte es in- und auswendig. Es war seine Lebensluft.
Und doch brauche ich dies hier, dachte Ata, und das war sein erster Gedanke seit langer Zeit. Er betrachtete den kleinen runden Gegenstand in seiner rechten Hand.
Ata war zu diesem Zeitpunkt der Ansicht, über ein klares Bild der Lage zu verfügen. Der Wagen stand an einem Straßenschild geparkt, im Schatten eines enormen Hauses ohne Licht. Ein Lagerraum, wie er festgestellt hatte. Ein Lagerraum neben dem Vereinslokal. Auf dem Straßenschild stand »Värbergs vagen«.
Dann war das Warten vorbei.
Wie gewöhnlich kam die Unterbrechung ziemlich abrupt. Aus dem Schatten des erleuchteten Gebäudes hundert Meter entfernt kam der Junge, allein. Bisher lief alles nach Plan. Er kam auf das Auto zu,
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