Opferzeit: Thriller (German Edition)
dort aufhältst, sondern einfach weil sie ihre Leute irgendwohin schicken müssen. Sie haben mehr Personal als Ideen, daher können sie es sich leisten, sie einfach aufs Geratewohl loszuschicken. Sie scheuchen ihre Leute dorthin, einfach nur um das Gefühl zu haben, dass sie überhaupt was unternehmen.«
Ich schüttle den Kopf. »Normalerweise würde ich dir recht geben, aber heute ist das anders. Mutter ist nicht zu Hause. Das macht es wesentlich einfacher für uns, dort einzubrechen und das Geld zu holen.«
»Wo ist sie?«
»Sie heiratet heute.«
»Weiß die Polizei das?«
»Nein«, sage ich. »Scheiße, natürlich hat die Polizei keine Ahnung davon, darum haben sie auch keinen Grund, nicht zu ihrem Haus zu fahren. Aber vielleicht waren sie bereits dort und haben festgestellt, dass sie nicht da ist.«
Melissa schüttelt den Kopf. »Oder vielleicht waren sie auch dort und haben Leute postiert. Wir können nicht dorthin, Joe. Das Risiko ist zu hoch.«
Sie hat recht. Ich weiß, dass sie recht hat. Aber fünfzigtausend Dollar sind zu viel Geld, um es einfach so abzuschreiben. Es muss noch einen anderen Weg geben.
»Außerdem wissen wir gar nicht, ob sie das Geld wirklich abgehoben hat«, fügt sie hinzu.
»Das hat sie ganz bestimmt«, sage ich. In den letzten Jahren habe ich immer wieder mal die Ersparnisse meiner Mutter unter der Matratze angezapft. Wenn ich das schon als Teenager getan hätte, anstatt zum Haus meiner Tante zu gehen, wie anders hätte da mein Leben verlaufen können! Nur leider wusste ich das damals noch nicht.
»Wir sollten einfach nach Hause fahren.«
»Nach Hause«, sage ich und überlege, wo jetzt mein Zu hause ist. Es ist nicht das Gefängnis. Es ist nicht das Haus mei ner Mutter. Es ist auch nicht mein Apartment. Es ist Melissas Haus. Ich wohne jetzt mit ihr und einem Baby zusammen.
»Es sei denn du weißt ein besseres Versteck«, sagt sie in einem vorwurfsvollen Ton, der mich an meine Mutter erinnert.
»Natürlich nicht«, sage ich zu ihr, und weil ich denke, dass sie das jetzt hören möchte, füge ich hinzu: »Ich liebe dich.«
Sie lächelt. »Das möchte ich auch sehr hoffen«, sagt sie. »Nach allem, was ich durchgestanden habe, um dich hierherzubringen.«
Sie wendet das Auto. Wir fahren in dieselbe Richtung zurück, aus der wir gekommen sind. Ich starre abwechselnd aus dem Fenster und auf sie. Sie sieht anders aus als an jenem Wochenende, das wir miteinander verbracht haben. Das liegt zum Teil an der Perücke. Außerdem wirkt sie etwas aufgedunsener im Gesicht und am Hals, und ihre Augen haben eine andere Farbe, was bedeutet, dass sie entweder jetzt Kontaktlinsen trägt oder damals bei unserer Begegnung im letzten Jahr.
»Was ist?«, fragt sie und schaut mich an.
»Ich erinnere mich daran, wie schön du bist«, erkläre ich ihr.
Sie lächelt. »Weißt du, was ich gerade denke?«
Ich nicke. Ich weiß es. Aber wie ich vorhin schon befürchtet habe, könnten dann einige Menschen womöglich Anrufe machen.
»Ich denke an das Geld«, sagt sie. »Es muss einen Weg geben, da ranzukommen.«
»Trotzdem hast du recht. Wir können es nicht riskieren, zum Haus meiner Mutter zu fahren. Jedenfalls im Moment nicht.«
»Bist du sicher, dass die Polizei nichts von den Hochzeitsplänen deiner Mutter weiß?«
Ich überlege. Meine Mutter wollte, dass ich bei der Hochzeit anwesend bin. Sie wollte, dass ich die Gefängnisleitung darum bitte, mir an diesem Tag Freigang zu gewähren. Hat sie den Plan womöglich weiterverfolgt? Ist sie zur Polizei gegangen und hat versucht, die Beamten davon zu überzeugen, mich für die Dauer der Feierlichkeiten aus dem Gefängnis zu lassen?
»Nach einer Hochzeit«, sagt sie, »fahren die Leute häufig in die Flitterwochen. Wenn die Polizei weiß, dass sie wegfährt, werden sie aufhören, ihr Haus zu beobachten, und das bedeutet … Joe, hey, geht’s dir gut?«
Mir geht es gar nicht gut. Ich denke an die Flitterwochen. Das hatte ich ganz vergessen. Ich weiß nicht, wo sie hinfah ren. An irgendeinen grauenhaften Ort. Ich denke an die fünfzigtausend Dollar, die meine Mutter in bar abgehoben hat.
»Joe?«
Mir kommt der Gedanke, dass sich das Geld überhaupt nicht im Haus befindet, sondern dass sie es mit sich herumträgt, weil ihre Flitterwochen direkt nach der Hochzeit beginnen und an dieser Reise sie selbst, Walt und das gesamte Geld teilnehmen werden. Sie hat nicht geglaubt, dass ich je wieder aus dem Gefängnis freikomme. Daher hat sie auch keinen
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