Opferzeit: Thriller (German Edition)
sagt er. »Bitte, Sally, erzählen Sie mir, was passiert ist. Haben Sie Ihnen gesagt, wo sie hinfahren? Sie haben doch ein Auto, haben die beiden es genommen?«
»Diese Frau, Melissa, sie ist gestern Abend hier aufgetaucht«, sagt Sally. »Sie hat damit gedroht, mich zu erschie ßen. Sie hat mich gefesselt, mir meinen Schwesternkittel und meinen Ausweis abgenommen. Heute Morgen ist sie dann gegangen und mit Joe zurückgekommen. Er war angeschos sen. Sie haben mich gezwungen, ihnen zu helfen. Ich dachte … ich dachte, sie würden mich sonst erschießen.«
»Sie sind jetzt in Sicherheit«, versichert er ihr erneut. »Was haben die beiden gesagt? Wissen Sie, wo sie hinwollen?«
Sie schüttelt den Kopf, hebt rasch eine Hand an die Schlä fe und schließt die Augen, das Kopfschütteln hat ausgereicht, um sie beinahe ohnmächtig werden zu lassen. Er hilft ihr hoch, sodass sie sich aufs Bett setzen kann. In Ordnung, jetzt beginnt sein Arm richtig wehzutun. Er zieht die zweite der drei Spritzen heraus.
»Was tun Sie da?«, fragt Sally.
»Keine Sorge, die ist nicht für Sie«, sagt er und schiebt sich die Nadel in den Arm.
»Sie sollten das nicht tun«, sagt sie.
»Erzählen Sie mir, was hier passiert ist«, sagt er, stülpt die Kappe wieder über die Nadel und lässt die Spritze zu Boden fallen. Die Taubheit in seinem Arm kehrt langsam zurück.
»Sie haben ein Baby bekommen«, sagt Sally.
»Was?«
»Sie hatten es nicht dabei«, sagt sie. »Aber … aber Melissa hat mich gezwungen, ihr bei der Geburt zu helfen.«
»Moment. Sie hat gestern Nacht ein Baby bekommen?«
Sally schüttelt den Kopf. »Vor drei Monaten. Sie ist hierhergekommen und …«
»Und Sie haben uns nichts davon erzählt?«
»Das konnte ich doch nicht«, sagt Sally mit gesenktem Kopf.
»Warum denn nicht zum Teufel?«
Sie beginnt zu weinen. Und dann erklärt sie ihm, warum. Eigentlich sollte er Verständnis für sie haben, trotzdem fühlt er nur Wut und Enttäuschung. Menschen mussten sterben. Polizisten mussten sterben. Sie hätte zu ihnen kommen müssen. Sie hätten mit dieser Information etwas anfangen können. Sie hätten Melissa schnappen und das Baby in Sicherheit bringen können.
»Erzählen Sie mir von heute«, sagt er. »Wie schlimm war seine Verletzung?«
»Man hat ihm in die Schulter geschossen. Es ist ein glatter Durchschuss.«
»Sie sind sich sicher, dass keiner der beiden etwas gesagt hat, das uns helfen könnte?«
»Nichts.«
Bevor er noch irgendetwas sagen kann, stürmt ein halbes Dutzend Männer in den Raum, alle schwarz gekleidet, einer von ihnen brüllt ihn an, hinlegen, hinlegen , dann landet ein Knie in seinem Rücken, sein Gesicht wird auf den Boden gepresst, und er schreit in den Teppich, als sein gebrochener Arm aus der Schlinge gezerrt und hinter seinen Rücken gedreht wird, und die ganze Taubheit ist mit einem Schlag verschwunden, als die Handschellen zuklicken.
Kapitel 77
Es ist schon über ein Jahr her, seit ich das letzte Mal zum Haus meiner Mutter gefahren bin, aber dieselben Gefühle, die ich damals hatte, habe ich auch jetzt wieder. Der Horror. Das Zittern. Das einzig Gute an meinem Gefängnisaufenthalt war, dass ich nicht jede Woche zum Hackbraten hier rauskommen musste.
Wir sind noch etwa fünf Minuten vom Haus entfernt, als Melissa das Tempo drosselt und schließlich am Straßenrand hält. Der Schmerz in meiner Schulter ist dumpf, es fühlt sich an, als hätte man dort einen warmen Ball eingenäht, der sich langsam ausdehnt. Melissa hält an, weil sie die aufgestaute Spannung nicht länger ertragen kann. Wenn wir uns nicht innerhalb der nächsten Sekunden gegenseitig die Kleider vom Leib reißen, explodieren wir. Nur gibt es da ein Problem – wenn wir uns gegenseitig hier im Auto die Kleider vom Leib reißen, könnten andere Menschen das sehen. Einige davon könnten dann sogar die Polizei verständigen.
»Die Polizei wird deiner Mutter einen Besuch abstatten«, sagt Melissa, während sie sich zu mir wendet.
»Häh?«
»Sie werden dort auf uns warten.«
Ich kann ihrem Gedankengang nicht ganz folgen. Hoffentlich wird unsere zukünftige Beziehung nicht darauf aufbauen, dass sie in Rätseln spricht und ich versuchen muss, sie zu ergründen. »Warum? Die wissen doch, dass ich angeschossen wurde. Das Haus meiner Mutter ist sicherlich der letzte Ort, an dem sie mich vermuten.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Vermutlich ist es sogar einer der ersten Orte, und zwar nicht, weil sie glauben, dass du dich
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