Opferzeit: Thriller (German Edition)
sich heraus, dass sie Joe nur wegen ihr geschnappt hatten. Keine Polizeiarbeit, keine detektivischen Fähigkeiten, einfach nur pures Glück, weil Sally etwas angefasst hatte, das sie nicht hätte anfassen dürfen.
»Du gibst mir jetzt wohl besser Kents Pistole«, sagt Hutton.
»Vermutlich hast du recht.«
»Ich weiß, dass ich recht habe. Komm schon, Carl. Wir haben den Fall fast gelöst. Aber wenn du am Ende noch jemanden erschießt, dann wandern wir womöglich beide ins Gefängnis.«
»Sie sind bewaffnet«, sagt Schroder. »Da ist es nur fair, wenn ich ebenfalls bewaffnet bin.«
»Glaubst du, sie ist noch am Leben?«, fragt Hutton. »Sally?«
»Nein.«
»Gibt es nichts, das dich dazu bewegen könnte, mir die Pistole auszuhändigen?«
»Gar nichts.«
»Aber bau keinen Mist, versprich mir das, okay?«
»Du hast mein Wort.«
»Verrate niemandem, dass du die Waffe überhaupt hattest.«
Die Stadt fliegt an ihnen vorbei. Die einzelnen Stadtviertel fliegen vorbei. Schroder nimmt nichts davon wahr. Sechs Minuten später biegen sie in Sallys Straße ein. Sie folgen den Nummern auf den Briefkästen, halten jedoch sofort an, als sie den blauen Lieferwagen in der Auffahrt sechs Häuser weiter sehen, genau dort, wo sie die gesuchte Hausnummer vermuten. Die Häuser sind alle ziemlich mickrig und wirken, als hätten sie dreißig Jahre lang schlechtes Wetter über sich ergehen lassen müssen und dabei nicht allzu viel Liebe abbekommen. Hutton wendet auf der Straße und fährt zurück zum Anfang des Blocks. Er zieht sein Handy heraus und gibt die Neuigkeiten durch. Die Verstärkung ist immer noch vier Minuten entfernt. Nachdem er aufgelegt hat, informiert er Schroder über den aktuellen Stand.
»In vier Minuten kann eine Menge passieren«, sagt Schroder.
»Und eine Menge übler Mist kann passieren, wenn wir da jetzt reingehen.«
»Wir haben vorhin auch den Rettungswagen geöffnet«, sagt Schroder. »Stimmt’s? Hier liegt der Fall kein bisschen anders.«
»Er liegt komplett anders«, entgegnet Hutton, und Schroder weiß das natürlich. »Uns war völlig klar, dass der Rettungswagen leer sein würde. Aber diesmal wissen wir, dass sie da drin sein werden. Wenn wir wenigstens Jonas Jones dabeihätten. Dann könnte er uns sagen, was da drinnen vor sich geht.«
»Sehr witzig. Hör zu, sie wären nicht hierhergekommen, wenn Sally tot wäre«, sagt Schroder. »Sie sind hergekommen, weil sie Hilfe brauchen. Höchstwahrscheinlich wegen Sallys medizinischer Kenntnisse. Ich sage dir, wir gehen da jetzt rein. Wir müssen es tun. Das sind wir Sally schuldig.«
»Wir sind es Sally schuldig, ihr die bestmögliche Überlebenschance zu geben, und die bestmögliche Chance hat sie, wenn wir auf Verstärkung warten, denn von denen hat keiner einen kaputten Arm. Nur noch drei Minuten«, sagt Hutton, und erneut weiß Schroder, dass der Mann recht hat. In Huttons Lage würde er wohl dieselbe Entscheidung treffen, aber warum fühlt sich das zweifellos Richtige dann so absolut falsch an?
Er öffnet die Wagentür und steigt aus.
»Himmel, Carl«, sagt Hutton, bevor er seinem Beispiel folgt. Schroder marschiert los. »Hast du vergessen, dass du kein Cop mehr bist?«
»Wir müssen etwas unternehmen, Wilson.«
»Bring mich nicht dazu, dich zu verhaften.«
»Wie willst du das anstellen? Hier auf der Straße einen Riesenaufstand machen?«
»Du wirst es noch hinkriegen, dass man mich feuert.«
»Und du denkst nur an deinen Job, statt an Sallys Leben.«
»Das ist richtig mies von dir, so was zu sagen, Carl«, erwidert Hutton.
»Ich weiß. Du hast recht, es tut mir leid. Aber wir können doch nicht einfach nur hier rumstehen und abwarten.«
»Zwei Minuten«, sagt Hutton. »Jetzt sind es nur noch zwei Minuten.«
»Damit haben wir also noch weniger Gelegenheit, es zu vermasseln.«
Schroder geht weiter auf das Haus zu. Er kann es schaffen. Er kann Sally retten, und Hutton kann Joe und Melissa verhaften. Dafür wurden sie ausgebildet. Wobei das nicht ganz stimmt. Sie wurden dazu ausgebildet, Nachforschungen anzustellen. Sie wurden dazu ausgebildet, in solchen Situationen das AOS-Team reinzuschicken und sich selbst zurückzuhalten. Melissa ist bewaffnet. Sie hat heute bereits einen Polizisten getötet. Es gibt keinen Grund, sie offen dazu einzuladen, noch einen weiteren zu töten. Er bleibt stehen.
»In Ordnung«, sagt er.
Also warten sie weitere zwanzig Sekunden, und dann beschließt Schroder, dass zwanzig Sekunden Warten lange genug
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