Optimum 1
gehört zu haben. »Nicht dass du dir … Das ist es nicht wert, glaube mir.«
Was geht da vor? Eliza war sich bewusst, dass sie eigentlich umdrehen und weggehen sollte, den beiden ihre Privatsphäre lassen, aber ihre Neugier war stärker. Sie schlich sich ein Stück näher an die Musikhalle und duckte sich hinter einen Rosenbusch.
Jo lachte. »Keine Angst, bevor ich mir was antue, haue ich lieber von hier ab. Woher will ich denn wissen, dass nicht diese verflixte Schule daran schuld ist? Vielleicht mischen die uns hier was ins Essen.«
»Rede doch keinen Unsinn. Ich glaube allmählich, du verdächtigst jeden und alle.«
»Nicht alle.« Jo machte noch eine kurze Pause. »Dich nicht. Du bist in der gleichen Situation wie ich. Aber ich weiß nicht, wie viele andere zu ihnen gehören.«
»Jo, hör auf, wer sind denn sie ? Was schusterst du dir da eigentlich zusammen?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, flüsterte Jo, kaum lauter als das Rascheln der Blätter. »Aber ich habe etwas gefunden. In den Papieren meiner Eltern. Ich hätte gar nicht nachsehen sollen, aber wir hatten mal wieder Streit, und ich war so wütend, und da – ach, ich weiß nicht, vielleicht war es kindisch, aber ich habe irgendwie gehofft, dass ich bei meiner Geburtsurkunde etwas Cooles finden würde. Dass ich adoptiert bin oder so. Du weißt schon. Der alte Traum. Eines Tages werden meine leiblichen Eltern kommen und mich abholen, so etwas. Aber stattdessen … « Sie schwieg, aber über dem leisen Rauschen der Blätter vernahm Eliza jetzt das Knistern von Papier, wie ein Zettel, der auseinandergefaltet wurde. »Ist nur eine Kopie«, sagte Jo leise. »Ich habe Kopien von allem gemacht. Und jetzt frage ich mich, ob dabei nicht etwas schiefgegangen sein könnte. Du verstehst?«
Lange herrschte Schweigen. So lange, dass die Vögel über Elizas Kopf wieder zu zwitschern anfingen. Ich sollte von hier verschwinden, aber schnell , dachte Eliza. Ich will das hier überhaupt nicht wissen. Ich will nicht einmal dran denken, was Jo herausgefunden hat. Ich will nicht. Doch ihre Füße schienen wie festgewachsen. Sie hätte sich nicht vom Fleck rühren können, und wenn sie es mit Gewalt versucht hätte. Sie wollte vielleicht nicht wissen, was da vor sich ging, aber sie musste es, das war ihr klar. Sie musste einfach. Sie hatte das starke Gefühl, dass sie irgendwie mit drinhing in dem, was Jo da herausgefunden hatte.
Wieder das Knistern von Papier. »Das tut mir leid, Jo.« Der Junge klang jetzt sehr bedrückt. »Aber ich weiß nicht, was soll denn da schiefgegangen sein? Du bist doch ganz normal. Ich kann mir nicht vorstellen – «
Jo lachte. Es klang schrill und unnatürlich. »Ganz normal? Ich bin nicht normal. Du bist auch nicht normal. Eliza ist nicht normal, und Janina auch nicht, und wer weiß wer sonst noch. Und meine Eltern haben davon gewusst. Oder sie hätten mir das hier doch erklärt. Sie hätten es mir einfach sagen können. Stattdessen schieben sie mich auf diese Schule ab, wo noch wer weiß wie viele andere Verrückte herumlaufen, und beschweren sich dann, dass ich mich nicht so entwickle, wie sie sich das vorgestellt haben.«
Eliza war zusammengezuckt, als sie ihren Namen so unvermittelt aus Jos Mund gehört hatte. Ein paar Spatzen, die in einem nahen Busch gehockt hatten, erschraken und schwirrten in einer dichten Wolke auf. Ihr Flügelschlag erschien in der Stille des Sommertags so laut, als habe Eliza ihre Anwesenheit mit Trompetenschall bekannt gegeben. Einen Augenblick lang dachte sie daran, zu fliehen.
Doch Jo schien die Spatzen überhaupt nicht zu bemerken. »Das hier ist doch eine Irrenanstalt«, sagte sie. »Niemand nennt sie so, aber ich habe recht. Und mit jedem Tag werden die Insassen schlimmer. Wir verlieren den Verstand, und niemand tut etwas dagegen. Außer mir. Ich werde herausfinden, was wirklich dahintersteckt. Und dann werde ich … wen auch immer … drankriegen, das schwöre ich.«
Eliza beschloss, dass dies der richtige Zeitpunkt war, sich möglichst lautlos zurückzuziehen. Vorsichtig wand sie sich durch die ineinander verschlungenen Rosenbüsche zurück zum Park. Erst als sie den gepflasterten Weg erreichte, der vom Schulhaus zu dem kleinen Café im Park führte, atmete sie auf und entspannte sich ein wenig. Die Stimmen der anderen Schüler, laut und fröhlich, kamen ihr unwirklich vor, waren ihr aber sehr viel lieber als das verschwörerische Flüstern von Jo und ihrem Freund. Eliza atmete tief
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