Optimum 1
tun.«
Seltsamerweise lächelte Frau Jansen immer noch. »Wenn du nicht zu mir kommen willst, kann ich dich natürlich nicht zwingen«, sagte sie leise. »Aber ich möchte, dass du immer daran denkst, dass ich für dich da bin. Falls du mich einmal brauchst. Du wirst schnell feststellen, dass die Schüler der Daniel-Nathans-Akademie unter einem enormen Druck stehen. Das ist wohl der Preis einer Eliteschule. Bevor du unter diesem Druck zusammenbrichst … « Sie brachte den Satz nicht zu Ende.
»So wie Janina?«, erwiderte Rica, und dieses Mal schien sie einen Nerv getroffen zu haben. Das Lächeln verschwand von Frau Jansens Gesicht, als habe es jemand weggewischt. Aber sie äußerte sich nicht.
»Kann ich jetzt gehen?« Sie wäre am liebsten schon auf halbem Weg zur Tür gewesen, aber sie traute sich nicht, ohne die Erlaubnis eines Erwachsenen – eines Erziehungsberechtigten – einfach aufzustehen.
Frau Jansen nickte. »Geh ruhig. Bis zum nächsten Mal.«
Nur über meine Leiche. Rica musste sich bemühen, mit langsamen, bedachten Schritten zur Tür zu gehen und sie nicht mit einem lauten Rums hinter sich zuzuknallen. Erst als sie auf dem Flur stand, konnte sie wieder durchatmen. Der Geruch nach Staub und Bohnerwachs war wie eine Erlösung nach dem stickigen Blumengeruch in Frau Jansens Büro. Rica lehnte sich einen Augenblick lang an die holzgetäfelte Wand und atmete tief und gleichmäßig mit geschlossenen Augen. So, nun bin ich also auch noch verrückt , dachte sie. Das hat mir gerade noch gefehlt.
Kapitel vier
Geheime Gespräche
Eliza liebte die alte Musikhalle.
Schon vor Jahren war das alte Gebäude abgebrannt, und alles, was davon noch stand, waren geschwärzte Betonmauern und ein halb eingesunkenes Dach. Schülern war es natürlich streng verboten, auch nur in die Nähe des Hauses zu gehen – was zur Folge hatte, dass jeder schon mindestens einmal hier gewesen war. Die meisten kamen zum Knutschen oder um heimlich die eine oder andere Zigarette zu rauchen. Manchmal verabredeten sich ein paar Schüler auch dort zum Saufen.
Aber niemanden zog es zur Rückseite der Ruine. Hier gab es nichts, das allzu interessant gewesen wäre, man hatte keine Möglichkeit, ins Gebäude selbst zu kommen, und alles, was es zu sehen gab, waren die Reste der Terrasse und einige verwilderte Rosenbüsche, von Brombeeren durchrankt, sodass sie ein undurchdringliches Dickicht bildeten.
Eliza dagegen war fasziniert von diesem Ort. Die geschwärzten Ruinen auf der einen Seite und die wilde Natur auf der anderen standen in einem seltsamen Kontrast zueinander, und sie hatte immer das Gefühl, gleichzeitig in zwei Welten zu stehen. Und sie mochte den Geruch. Feuchte Steine, modrige Blätter, gemischt mit dem süßen, beinah überwältigenden Duft der Rosen. Im Herbst hingen die alten Brombeerranken voller dicker schwarzer Beeren, die einem die Finger rot färbten und verführerisch süß schmeckten. Und das Beste war einfach, dass dieser Platz nur ihr allein zu gehören schien. Sie hatte dort noch nie einen anderen Schüler angetroffen.
Bis heute jedenfalls.
Eliza wand sich zwischen den überhängenden Rosenranken hindurch, die ihre Schultern streiften wie Geisterfinger. Die Süße der Nachmittagsluft lag schwer über ihr, und zwischen den Sträuchern taumelten Schmetterlinge wie schlaftrunken umher.
Als sie gerade durch den letzten Busch kriechen wollte, bemerkte sie, was ihr schon viel früher hätte auffallen sollen: Stimmen. Dem Klang nach zu urteilen, handelte es sich um ein Mädchen und einen Jungen, und sie stritten sich. Eliza hielt auf der Stelle inne, den ganzen Körper angespannt wie eine Feder, bereit, davonzulaufen, wenn die beiden ihre Anwesenheit bemerkten. Aber sie schienen so in ihr Gespräch vertieft, dass sie Elizas Schritte auf dem weichen Waldboden nicht gehört hatten.
»Du hast doch keine Ahnung.« Das war eindeutig Jo, wütend und verzweifelt zugleich. »Vielleicht ist es bei dir ja nicht so schlimm. Vielleicht mag es für dich vorbeigehen. Vielleicht bist du auch einfach nur feige. Mir jedenfalls kommt es von einem Tag auf den anderen mehr so vor, als ob mir gleich der Kopf platzt. Ich halte das nicht mehr lange aus, verstehst du? Wenn ich nichts dagegen unternehme, dann – ich weiß nicht … « Die letzten Worte sprach sie nur noch ganz leise.
»Mach keine Dummheiten, Jo.« Die Stimme des Jungen war leise und bittend. Eliza konnte sie nicht ganz einordnen, auch wenn sie glaubte, sie schon einmal
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