Optimum - Purpurnes Wasser (German Edition)
überblätterte andere und schlug ab und zu mal ein paar Seiten zurück, wie um etwas nachzusehen. Trotzdem schien es Rica, als ob er unendlich lange brauchen würde, bis er fertig war. Vielleicht gelang es ihm ja einfach nicht sehr gut, die krakelige Schrift zu entziffern. Sie beobachtete ihn ungeduldig, auch wenn ihr nicht ganz klar war, worauf sie eigentlich wartete. Selbst, wenn es ihr gelang, ihn zu überzeugen, was brachte ihr das? Außer vielleicht …
Plötzlich musste sie grinsen. Das war die Lösung. Dass sie darauf noch nicht gekommen war! Sie selbst konnte das Gebäude vielleicht nicht verlassen, schon gar nicht mit so einem wertvollen Dokument, aber dieser Mann konnte das vermutlich ohne Weiteres. Er musste ja irgendwann Schichtende haben, und niemand würde ihn durchsuchen, wenn er das Gebäude verließ. Er sah so aus, als würde er schon eine halbe Ewigkeit für diesen Verein hier arbeiten, mindestens so lange wie Elisabeth Marner. Wenn sie ihn herumbekam, ihn von den bösen Absichten des Instituts überzeugen konnte, dann konnte er das Buch zu ihrem Vater bringen.
Und was bringt dir das? Ruhm und Ehre? Macht nichts, sie werden dich trotzdem beseitigen. Rica versuchte, den Gedanken zu verdrängen. Sie biss sich auf die Unterlippe, um die Tränen zurückzuhalten, die in ihr aufstiegen. Verdammt. Sie konnte doch wohl einmal aufopferungsvoll und heldenhaft sein, oder nicht?
Aber sie fühlte sich überhaupt nicht heldenhaft. Nicht, wenn ihr Leben dabei wirklich auf dem Spiel stehen konnte. Vielleicht sollte sie den Mann lieber fragen, ob er sie selbst nicht auch hier herausbringen konnte.
Und wie soll er das tun? Unter seiner Jacke? Rica presste die Lippen aufeinander. Sie konnte jetzt nicht mehr zurück. Vielleicht schaffte der Mann es ja auch schnell genug zu ihrem Vater, dass der irgendwie Hilfe holen konnte.
Nach einer gefühlte Ewigkeit sah der Mann auf. Sein Gesicht war blass geworden, und er wirkte, als sei er in kürzester Zeit um Jahre gealtert. »Darf ich das mitnehmen?«, fragte er und hielt das Buch in die Höhe, als bestünde irgendein Zweifel daran, was er meinte.
Rica zuckte mit den Schultern, und versuchte, möglichst cool zu bleiben. »Ist ja nicht meins«, meinte sie. »Aber vielleicht könnten Sie dafür sorgen, dass es in die richtigen Hände gerät?« Sie zögerte, beschloss dann aber, dass sie ohnehin nichts zu verlieren hatte. Die Leute vom Institut hatten ihren Vater bereits aufgesucht. Es war kein großes Geheimnis, wo er sich aufhielt. »Mein Vater wohnt im Hotel Seepferdchen im Ort hier. Er hat Verbindungen zur Presse und wollte ohnehin Material sammeln.« Sie deutete auf das Buch. »Er ist der Thomas, von dem die Frau spricht.«
Der Mann hob überrascht die Augenbrauen. »Thomas Rausner ist vor Ort?«
Rica nickte.
»Ich werde mit ihm sprechen«, meinte der Mann und erhob sich. »Wir kennen uns noch von früher. Ich hoffe, er will mich überhaupt sehen.« Langsam und bedächtig ging er zur Tür. Dort angekommen drehte er sich noch einmal um. »Das Essen ist wirklich nicht vergiftet.«
Dann öffnete er die Tür und war im nächsten Augenblick verschwunden.
Rica blieb allein zurück. Einmal mehr wartete sie auf ihr Schicksal.
Nichts passierte. Rica kam sich vor, als habe sie schon Stunden dagesessen, aber niemanden schien es zu kümmern, dass sie hier war. Es war so, als hätten sie sie hier festgesetzt und dann vergessen.
Sie wusste nicht, ob sie sich durch diesen Gedanken beruhigt fühlen sollte. Vielleicht hatten sie ja vor, sie einfach hier drin zu lassen, bis …
Ja, bis was eigentlich? Verhungern lassen werden sie mich nicht, immerhin hat man mir Essen gebracht. Ricas Blick wanderte zu dem Tablett, das immer noch unberührt auf dem Tisch stand. Sie hatte keinen Hunger. Vielmehr merkte sie, wie hundemüde sie war. Nicht umsonst war sie die halbe Nacht auf gewesen, war in ein Labor eingebrochen, hatte Beweise gesucht, war gefangen genommen worden und hatte neue Erkenntnisse durch das Tagebuch gewonnen. Das Ganze war ein bisschen viel für einen Abend.
Wieder starrte sie die Tür an. Wenn sie sich nicht bald öffnete, würde sie sich einfach ins Bett legen. Sie wünschte sich, sie hätten ihr Handy nicht konfisziert. Zu gerne hätte sie gewusst, wie spät es war.
Ich werde mich nur eine Minute hinlegen. Nur ein bisschen auf den Rücken und dösen. Um neue Kraft zu tanken. Rica warf einen letzten Blick auf die verschlossene Tür, dann ließ sie sich zurücksinken
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