Optimum - Purpurnes Wasser (German Edition)
erfreutes, aber sonst neutrales Gesicht. Wie jemand, dem gerade eine praktische Lösung eingefallen war.
Doch der Mann reagierte überhaupt nicht, wie Rica es erwartet hatte. Er wich vor ihr zurück und sah sie auf einmal mit riesigen Augen an.
»Michelle Kaltenbrunn«, wiederholte Rica, dieses Mal mit einem etwas ungeduldigen Tonfall. »Sie hat gesagt, ihr Vater wäre irgendwie reich oder so was, jedenfalls bekannt. Kann das sein, dass sie hier wohnt? Dann kann ich bestimmt bei ihr unterschlüpfen. Ich meine, wir waren jetzt nicht gerade beste Freunde, sie war ja auch ein bisschen jünger als ich, aber so einfach jemandem etwas abschlagen würde sie bestimmt nicht, oder?«
»Niemand ist richtig mit Michelle Kaltenbrunn befreundet«, flüsterte der Mann. »Du willst da nicht wirklich hin, Mädchen, oder?«
Rica zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Ich hab doch sonst nichts, wohin ich gehen kann.« Ihre Schauspielkunst kam mindestens an die von Eliza heran, so locker und unbedarft klang ihre Stimme. Doch der Mann schüttelte wieder den Kopf.
»Ich weiß nicht, wann dieses Sommercamp gewesen ist, aber offensichtlich kennst du noch eine andere Michelle.«
Rica zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Ich würde es trotzdem gerne versuchen, wenn Sie mir vielleicht den Weg zeigen könnten?«
Der Mann musterte Rica plötzlich sehr eindringlich. Beinah als habe er ihren Bluff durchschaut. Rica legte sich schon die nächste Antwort zurecht, als er seufzte.
»Also gut. Aber könntest du mir vielleicht einen Gefallen tun, Mädchen?«
Rica zuckte wieder mit den Schultern. Allmählich begann sie wirklich, zu frieren. Sie musste sehen, dass sie ins Warme kam.
Der Mann kritzelte etwas auf einen Notizblock und riss dann den obersten Zettel ab. Er faltete ihn einmal in der Mitte und reichte ihn Rica. »Das ist meine Telefonnummer«, sagte er. »Du kannst sie gleich wegwerfen, wenn du mich nur einmal kurz anrufst, wenn du bei dieser Michelle bist und alles glatt läuft, ja?«
Dieses Mal war Ricas Stirnrunzeln nicht gespielt. Sie nahm den Zettel mit spitzen Fingern und musterte die Nummer. Eine Handynummer, sonst nichts.
»Warum …?«
»Bitte, tu es einfach. Mir ist die Sache nicht geheuer, ein junges, verirrtes Mädchen einfach so in ein fremdes Haus zu schicken.« Der Mann lächelte sie jetzt an, und in seinen Augen konnte Rica echte Sorge erkennen. Warum auch immer, der Kerl schien davon überzeugt zu sein, sich um sie kümmern zu müssen.
»Meinetwegen«, brummte sie und schob den Zettel in die Jackentasche. Wenn es diesen Kerl beruhigte …
Der Mann nickte. »Geh die Bahnhofsstraße runter und bieg an der Hauptstraße nach links. Dann kommst du an ein paar Läden vorbei. Direkt hinter dem Bäcker geht rechts eine kleine Gasse hoch. Die ist steil, viele Treppen und so, aber es ist eine Abkürzung. Wenn du oben bist, gehst du wieder nach links. Du bist dann in so einem Wohngebiet. Finkenweg heißt die Straße. Die gehst du fast bis zum Ende durch, dann kommst du zu Nummer 32. Da musst du rein.«
»Finkenweg 32«, murmelte Rica und notierte sich die Adresse mit einem Kugelschreiber auf dem Unterarm. »Vielen Dank«, meinte sie. »Ich rufe bestimmt an.«
Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu, aber auch er bemühte sich um ein Lächeln. Rica winkte ihm noch einmal zu, bevor sie sich umdrehte und die Straße hinunterging.
Die Straßen waren wie ausgestorben, dabei war es erst kurz vor halb zehn. In ein paar Häusern entlang der Straße brannte Licht, und Rica konnte die Schemen von einzelnen Personen hinter dem Glas sehen. Sie wünschte, sie könnte einfach an einem dieser Häuser klingeln und Einlass verlangen. Sie sehnte sich nach ein bisschen Ruhe, Wärme und Normalität.
Erstaunlich schnell erreichte sie die Hauptstraße, die diesen Namen kaum verdient hatte. Sie lag genauso öde da, wie der Weg vom Bahnhof, und nur hier und da glommen die beleuchteten Schilder von wenigen Läden. Es war wie in einem Dorf vor dreißig oder vierzig Jahren, es gab einen Fleischer, einen winzigen Lebensmittelladen von der Art, die Rica für ausgestorben gehalten hatte, ein Schreibwarengeschäft und einen Bäcker. Direkt hinter dem Bäcker gähnte der Eingang zu einer schmalen Gasse, die steil bergan führte. Der Beton war gesprungen, Gras wuchs durch die Ritzen, und es sah so aus, als wäre der ganze Weg lange nicht mehr gepflegt worden. Wieder schauderte Rica ein wenig. Es ist wie in einem Geisterfilm, dachte sie, und ich bin
Weitere Kostenlose Bücher