Optimum - Purpurnes Wasser (German Edition)
konnte sie sich nicht dazu durchringen, die Klingel zu drücken.
»Bist du ein guter Junge? Hast du was dagegen, wenn ich zu dir rüberkomme?« Rica kauerte sich vor dem Tor hin und hielt dem Hund zaghaft ihre Finger entgegen. Sie hatte immer ein wenig Respekt vor großen Hunden gehabt, und dass sie vor ein paar Monaten von einem gejagt worden war, den sie für einen guten Kumpel gehalten hatte, machte das Gefühl nicht besser.
Doch der Hund hob nur kurz die Nase, schnupperte an ihren Fingern und klopfte abermals mit dem Schwanz auf den Boden. Er schien nichts gegen sie zu haben. Offensichtlich wollte er nicht mal aufstehen.
Rica richtete sich wieder auf und griff nach den Metallstangen des Tors. Es war nicht besonders hoch, eher zur Zier und wahrscheinlich, um den Hund drinnen und andere seiner Artgenossen draußen zu lassen. Kein Problem für jemanden, der schon auf Bäume geklettert war, als er kaum laufen konnte.
Rica schwang sich über die Gitterstäbe und ließ sich auf der anderen Seite zu Boden plumpsen, direkt neben dem Schäferhund. Als sie so plötzlich neben ihm landete, stieß er doch ein heiseres Bellen aus und kämpfte sich auf die Füße. Erst jetzt sah Rica, dass seine linke Flanke mit einer dunklen Flüssigkeit verklebt war. Das Tier war nicht besonders sicher auf den Beinen, es taumelte ein wenig, schwankte dann zu Rica herüber und leckte ihr über die Hand. Rica wagte nicht, die verklebte Hundeflanke anzufassen, aus Angst, was sie da finden konnte.
Auch, wenn sie es natürlich schon wusste. Der Hund hatte geblutet. Stark, so wie es aussah. Deswegen hatte er sich auch nicht die Mühe gemacht, aufzustehen, vermutlich war er zu schwach.
»Leg dich wieder hin, alter Junge«, murmelte Rica und tätschelte den massigen Schädel. »Bald kommt Hilfe.« Sie überlegte sich, ob sie das Prepaid-Handy, das sie sich vor der Fahrt besorgt hatte, nehmen und die Polizei rufen sollte. Aber was sollte sie denen sagen? Dass sie dabei war, bei den Kaltenbrunns einzubrechen und dass der Hund verletzt war?
»Ich besorge dir Verbandszeug«, versprach sie dem Hund, der weiterhin freundlich mit dem Schwanz wedelte. »Ich kümmere mich um meinen Kram, und dann komme ich zurück zu dir, versprochen.«
Trotzdem holte sie ihr Handy aus den Tiefen ihrer Jackentasche und trug es in der Hand, als sie zum Haus hinaufging.
Zwei Autos parkten davor. Ein Familienwagen und eine lange, schwarze Limousine, die Rica bekannt vorkam. Rica blieb stehen und sah den Wagen an. Seine Anwesenheit mochte alles Mögliche bedeuten, und das Meiste davon gefiel ihr nicht. Entweder waren die Kerle vom Institut hier oder Frau Jansen oder beide. Oder die Menschen, die hier lebten, waren die Kerle vom Institut.
Rica wandte sich wieder dem Haus zu. Eine breite, helle Steinterrasse zog sich um das ganze Gebäude. Wenige Stufen führten zu ihr hinauf, und direkt vor Rica prangte eine zweiflügelige Eingangstür aus dunklem Holz.
Die Tür stand einen Spalt offen. Ein schmaler Streifen Licht fiel zwischen den Türflügeln hervor auf die oberste Stufe, wie ein mahnender Zeigefinger, der Rica abhalten wollte, hineinzugehen. Sie blieb zögernd stehen, doch dann rief sie sich zur Ordnung. Hier stimmte etwas nicht, das war klar, aber sie musste herausfinden, was es war. Das Handy immer noch fest mit ihren verschwitzten Fingern umklammernd, zog Rica die Tür weiter auf.
Nichts.
Wenn sie erwartet hatte, dass sie irgendwas aus dem Haus anspringen würde, hatte sie sich geirrt. Vor ihr lag eine kleine Eingangshalle, von der mehrere Türen abgingen. Eine Galerie umlief den Raum auf halber Höhe, und Rica konnte weitere Türen erkennen. Alles war in hellen Naturfarben gehalten: viel Holz, Sandsteinfliesen, helle Leinebehänge. Die Blutspur auf den Fliesen allerdings störte den schicken Gesamteindruck.
Rica starrte die Lache an, die sich am Fuße der hölzernen Wendeltreppe gebildet hatte. Dunkelrotes Blut, schon ein wenig angetrocknet. Als Rica einen Schritt näher trat, sah sie die unverkennbaren Abdrücke von Hundepfoten im Blut, die sich in Richtung Hintertür entfernten.
Es war nur der Hund. Ich wusste doch schon, dass der Hund verletzt ist. Dummes Mädchen! Rica schüttelte den Kopf.
Vorsichtig ging sie weiter auf die Treppe zu. Das Haus war still. Totenstill, dachte Rica, und schauderte abermals. So ein Unsinn. Reiß dich gefälligst zusammen, Rica! Dennoch kam ihr alles viel zu ruhig vor, als sie den Fuß auf die unterste Stufe der Treppe
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