Optimum - Purpurnes Wasser (German Edition)
auf dem Weg zum Spukschloss.
Sie schüttelte den Kopf, versuchte, über sich selbst zu lachen, und trat in die Gasse. Der Aufstieg war lang und anstrengend. Die Stufen schienen mit jedem Schritt noch höher und noch steiler zu werden, sodass Rica vor lauter Atempausen bald das Nachdenken verging. Als sie endlich am oberen Ende der Gasse angekommen war, war sie vollkommen außer Puste, und alle Kälte schien aus ihrem Körper gewichen zu sein. Sie war nassgeschwitzt bis auf die Haut.
Das Wohngebiet hier oben war mindestens genauso einsam wie der Ort unten, aber dennoch gab es einen himmelweiten Unterschied. Während der Ort unten eher trostlos wirkte, eine Art Relikt aus einer Zeit, die Rica nie erlebt hatte, waren die Häuser hier oben groß, modern und sahen teuer aus. Das ganze Wohngebiet konnte nicht viel älter sein als vielleicht zehn Jahre, und anscheinend versuchte hier eine Familie die nächste mit Pomp und Prunk und Innovation zu übertrumpfen. Glas, Holz, Säulen, elegante Zäune und sauber angelegte Gärten. Seltsam, dass sich so etwas gerade in einem so abgelegenen Kaff entwickelt hatte, aber vielleicht wollten die Leute, die hierher zogen, ja auch ihre Ruhe.
Rica bog wieder nach links und folgte der breiten, hellen Straße eine lange, flache Kurve hinunter. An jedem Haus, an dem sie vorbeiging, sprang die Außenbeleuchtung an. Bewegungsmelder, machte Rica sich klar, nachdem sie zum dritten Mal zusammengezuckt war, und sich schon eine Ausrede zurecht gelegt hatte. Sie passierte mehr wunderschön angelegte Gärten, hier und dort sogar ein unbewohntes Grundstück, auf dem Obstbäume zu blühen begannen, und von denen aus man eine wunderbare Aussicht ins Tal hatte.
Die Straße schien endlos, aber schließlich mündete sie in eine Wendeschleife. In der Mitte der Schleife war ein winziger Park aus blühenden Beeten und einem japanischen Kirschbaum angelegt worden, und auf der anderen Seite gab es eine alte Bruchsteinmauer, in die ein Metalltor eingelassen war, gerade breit genug, dass ein Wagen hindurchfahren konnte. Wieder jemand, der sich eingemauert hat.
Anders als an der Daniel-Nathans-Akademie gab es hier allerdings kein Torhäuschen, nur einen schlichten Briefkasten und die metallene Nummer »32«, die darüber angeschraubt war. Eine Auffahrt führte zu einem erstaunlich hübschen und vollkommen unmodernen Haus in mediterranem Stil. Direkt hinter dem Tor lag ein junger Schäferhund und schlief offensichtlich.
Rica blieb vor dem Tor stehen, starrte auf den Hund hinunter und fragte sich, was sie an ihm so merkwürdig fand. Es war ein ganz gewöhnlicher, wuscheliger Hund, dessen weiches Fell sich unter tiefen Atemzügen leicht bewegte. Dann fiel es ihr wieder ein. Die Stimme von Herrn Wolf klang in ihrem Kopf wieder. Sie hat den Hund umgebracht.
Das hier musste ein neuer Hund sein. Und wenn er das Schicksal seines Vorgängers kennen würde, würde er sicher nicht so ruhig schlafen. Rica beneideten das Tier fast ein wenig um seine Seelenruhe.
Sie seufzte. Es war wohl nicht mehr herauszuzögern, sie musste etwas tun. Sie konnte schließlich nicht hier stehen bleiben, den Hund anstarren und sich den Arsch abfrieren. Sie war hierher gekommen, um Michelle zu sehen.
Rica trat vor und legte den Finger auf den Klingelknopf unter dem Briefkasten.
Der Hund hob den Kopf, schnupperte kurz und klopfte dann freundlich mit dem Schwanz auf den Boden, als hätte er in Rica einen lange vermissten Freund erkannt. Aber irgendwas in seinem Verhalten ließ Rica zögern. Sie nahm den Finger wieder vom Knopf.
Sie sah sich den Hund genauer an. Es war ein gepflegtes Tier, mit gebürstetem Fell und einem edlen Halsband. Der Hund war nicht angekettet und kein Hofhund – kein Tier, das man im Freien hielt. Das war ein Hund, der normalerweise im Haus lebte und den jeder Mensch mit ein bisschen Tierliebe bei diesem Wetter nach drinnen geholt hätte. Und außerdem – selbst wenn es ein Hofhund war, dann hätte er doch sicher eine Hütte oder einen Unterstand, in dem er die Zeit verbringen konnte.
»Warum liegst du bei diesem Mistwetter hier draußen?«, wollte sie wissen.
Beim Klang ihrer Stimme sah der Hund wieder auf, zog die Lefzen ein wenig hoch und winselte.
»Dir ist bestimmt kalt«, murmelte Rica. »Guter Junge.« Wieder sah sie zum Klingelknopf. Wenn der Hund hier draußen war und sich niemand im Haus darum zu kümmern schien, war doch da irgendwas faul.
Du siehst Gespenster, wies sie sich zurecht, aber dennoch
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