Opus 01 - Das verbotene Buch
auf die Beine zu kommen – schon raste er auf die nächste Flusskrümmung zu, und die Strömung wurde nun mit jedem Herzschlag noch reißender. Die Falken hatte er anscheinend fürs Erste abgehängt, aber wenn sie ihn abermals ausfindig machen würden, dann würde er sie eben aufs Neue in die Flucht schlagen. Amos jagte durch Links- und Rechtskehren, warf sich auf den Rücken und schlingerte durch atemberaubend enge Felsröhren, sprang wieder auf und lenkte sein Floß weiter die Schlucht hinab. Er steuerte es mit leichten Bewegungen seines Körpers und dachte dabei immer wieder an das Pferd mit dem Linienmuster, das Laurentius Answer auf jenem unterirdischen Strom gesehen hatte: Es schien seinen Nachen allein durch die Kraft seines Willens zu lenken, und Amos fragte sich, ob auch er diese Fähigkeit erlangen würde, wenn er die dritte oder die vierte Geschichte aus dem
Buch der Geister
las.
Aber vielleicht war ja ein wenig von dieser Gabe bereits in ihm lebendig geworden: Mit traumwandlerischer Sicherheit raste ertalwärts, mal bis zu den Knien im gurgelnden Wasser, dann wieder mitsamt seinem Floß drei Fuß hoch über den Fluten fliegend. Es war eine tollkühne Fahrt, und obwohl Amos vor Angst beinahe umkam, war ihm gleichzeitig zum Jubeln zumute, zum Singen und Lachen und Schreien. Es war lebensgefährlich und berauschend, und es war genau die richtige Prüfung, um herauszufinden, ob er tatsächlich der Auserwählte war. Oder zumindest, ob Kronus den Richtigen für die Rettung seines
Buchs der Geister
auserwählt hatte.
Klara? So sicher fühlte er sich bereits, dass er mit halb geschlossenen Augen sein Floß steuerte und dabei in sein Inneres spähte. Klara, ich bin ihnen entwischt!
Er erblickte sein magisches Herz und den kräftigen Strahl, umgeben von Sternenflimmern, der ihn mit Klaras silbrigem Lichtquell verband. Aber er bekam keine Antwort von ihr.
Ich komme die Schlucht im Felsenlabyrinth herunter – mit der zerschossenen Turmtür als Floß. Heda, Klara – was ist mit dir?
Beschwörend rief er sie in seinem Geist wieder und wieder an. Und da endlich spürte er jenes nun schon vertraute Ziehen, von seinem Nabel aufwärts bis zur Kehle, und gleichzeitig ein Sausen hinter seiner Stirn.
Alles in Ordnung , antwortete sie. Ich kann nur nicht beides auf einmal – Reiten und Gedankenmagie .
Reiten? , wiederholte er und musste grinsen: Sich vorzustellen, wie Klara auf einem Pferd ritt, gefiel ihm großartig.
Na ja, was glaubst du denn, Amos – dass ich dich einfach deinem Schicksal überlasse? Ich habe mir ein Pferd aus dem Hospizstall genommen und mich still und leise davongemacht. Ich bin schon auf dem Reitweg hoch zu den Felsen – in einer halben Stunde müsste ich am Fuß des Labyrinths sein .
Na wunderbar , gab er zurück – und im selben Moment wurde der reißende Strom zum donnernden Wasserfall. Anscheinend war Amos da bereits durch die Spalte hindurchgerast, zu der er bei seinem Aufstieg im Felslabyrinth als Erstes hinaufgeklettert war – nurhatte er diesmal nicht darauf geachtet, weil er sich stattdessen Klara auf ihrem Pferd vorgestellt hatte. Allem Anschein nach hatte sie es aus dem Stall ihres Waisenheims geklaut, so wie sie ihm damals den Brief gestohlen hatte – meine grünäugige Diebin, dachte Amos, während er von den brüllenden Wassermassen die Felswand hinabgerissen wurde, an der damals, vor so vielen Jahren, sein Vater mit ihm auf dem Rücken leichtfüßig hinaufgeklettert war. Sein Floß hatte er längst verloren, und seine Orientierung ohnehin – er hätte nicht einmal mehr sagen können, wo oben und wo unten war, ob er mit den Füßen oder dem Kopf voran talwärts stürzte.
Und dann schlug er mit furchtbarer Wucht auf – mit der Schulter, konnte er gerade noch denken, also war er doch fast kopfüber den Wasserfall hinabgesaust. Dann wurde ihm schwarz vor Augen – er spürte eben noch, wie die Strömung ihn in seichtes Uferwasser schob und er reglos liegen blieb. Und danach erst einmal gar nichts mehr.
5
A
ls Amos zu sich kam,
war es dunkle Nacht. Hoch über ihm glitzerten ein paar Sterne zwischen den Wolken. Er lag im flachen Wasser, tropfnass und zitternd vor Kälte.
In seiner rechten Schulter klopften Schmerzen, an seinem linken Arm spürte er eine tastende Hand. Oder vielleicht ein kleines Tier, das dort an ihm herumschnüffelte.
»Klara?«
Keine Antwort. Nur die Hand – oder das Etwas – tastete und kratzte weiter an seinem Arm herum.
»He, Klara, was machst du
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