Opus 01 - Das verbotene Buch
erbärmlichen Stöhnlaut auf den Rücken wälzte. Johannes ging neben ihm zu Boden, rappelte sich aber noch in der Fallbewegung wieder auf und zerrte ihm das Buch unter dem Flickenleder hervor. Mit einem Satz sprang er an Amos vorbei, taumelte den Hang wieder hinab und rannte im Mondlicht den Reitweg in Richtung Wunsiedel entlang. Überdeutlich, wie mit der Schere ausgeschnitten, sah Amos
Das Buch der Geister
, das Johannes in seiner Rechten schwenkte.
Es war wie in einem Albtraum – immer wenn man eine Gefahr überstanden hatte, tauchten neue Widersacher auf.
Mit seinen allerletzten Kräften rannte Amos hinter dem Fliehenden her. Zu seiner Rechten gurgelten die Fluten in dem Flussbett, in das sich der Wasserfall schließlich ergossen hatte – noch heute früh, ehe das Unwetter begonnen hatte, war es sicherlich ausgetrocknet gewesen. Denn dieser Sommer im 1499. Jahr des Herrn war einer der trockensten seit Menschengedenken, die Ähren verdorrten auf den Almen und das Vieh auf der Weide musste sich mit strohig vergilbten Gräsern begnügen. Viele Weltuntergangsprediger deuteten auch diese Dürre als Zeichen, dass der Tag des Jüngsten Gerichts nahe sei.
Wie würden sie aber den ungeheuren Wolkenbruch erklären, der das Felsenlabyrinth für die Dauer eines Tages in eine tosende Unterwasserwelt verwandelt hatte? Vielleicht war es ja ein Zeichen, dachte Amos, dass er wahrhaftig auserwählt war. Aber nein, das klang wenig glaubwürdig – Kronus war ein weiser Mann, der magische Fähigkeiten besaß, doch derartige Naturgewalten konnte bestimmt auch er nicht entfesseln. Dennoch hätten die Bücherjäger Amos heute wie einen Hasen bei der Treibjagd erlegt und
Das Buch der Geister
ein für allemal an sich gebracht, wenn ihm das Unwetter nicht zu Hilfe gekommen wäre.
Das Buch allerdings hatte nun der tollwütige Johannes in seinen Fängen. Hatte er nicht vor Kurzem noch gehinkt, dass es zum Erbarmen war? Nun jedoch sprang und schnellte er im Mondlicht so geschwind den Weg entlang, dass Amos Mühe hatte, ihm auf den Fersen zu bleiben. Johannes war ihm schon wenigstens zwanzig Schritte voraus, und sein Vorsprung wurde immer größer. Bei jedem Schritt spürte Amos einen Stich in seiner Brust und wie als Echo antwortete seine rechte Schulter mit klopfenden Schmerzen.
Klara , dachte Amos beschwörend und senkte die Lider, um im Rennen zugleich in sein Inneres hineinzuspähen. Doch er war so erschöpft, dass er bei diesem Versuch ins Stolpern geriet und Johannes’ Vorsprung nur noch größer wurde.
Er musste sich entscheiden. Er spürte genau, dass er zu müde und zerschlagen war, um den Fliehenden jetzt noch einzuholen.
Klara , dachte Amos wieder und ließ sich am Wegrand ins Gras fallen. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Strahl, der ihrer beider magischen Herzen miteinander verband. Klara, bitte antworte mir.
Bin gleich da.
Klara, du musst vom Weg runter, sofort.
Aber warum denn – ich bin …
Bitte, tu was ich sage. Ich erkläre es dir gleich.
Einige Augenblicke lang schien die Verbindung abgerissen. Dann vernahm er wieder ihre Gedankenstimme, hell und ein wenig atemlos.
Also, ich bin in Deckung gegangen. Was ist denn?
Er erklärte es ihr, so rasch er nur konnte. Johannes rennt auf dich zu und er hat das Buch – wenn er bei dir ist, musst du ihn irgendwie aufhalten. Nur pass um Himmels willen auf – wahrscheinlich hat er eine Streitaxt. Aber auch ohne Waffe ist er so gefährlich wie ein tollwütiger Hund .
Du verstehst es, mir Mut zu machen, Amos. Aber keine Sorge – Leuten was wegzunehmen, darin habe ich ja Übung. Er spürte ihr Grinsen, während sie ihm diese Botschaft sandte.
Noch einmal rappelte sich Amos auf und lief weiter den Weg hinab ins Wunsiedeler Tal. Erst im Rennen wurde ihm so richtig bewusst, was er eben gemacht hatte: Er hatte das Schicksal des
Buchs der Geister
Klara anvertraut.
6
W
ie ein Kobold sprang Johannes
den Weg hinab, mittlerweile mindestens dreißig Schritte voraus, und selbst aus dieser Entfernung meinte Amos sein glückseliges Winseln zu hören. Doch im nächsten Moment heulte Johannes erschrocken auf: Zu seiner Linken brach mit wehendem Haar eine Reiterin aus dem Dickicht und trieb ihr Pferd geradewegs auf ihn zu. Das Tier schnaubte und bäumte sich auf und schien mit seinen Vorderhufen nach Johannes zu schlagen. Der machte einen Satz nach hinten und die Reiterin setzte augenblicklich nach.
Währenddessen hatte Amos bis auf ein Dutzend Schritte zu ihnen
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