OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
noch nicht so ganz im Klaren.« Meinolf zuckte mit den Schultern. »Eines aber weiß ich: So schnell wie diese teuflische Bruderschaft sich oftmals über große Entfernungen hinweg verständigt – das geht bestimmt nicht mit rechten Dingen zu.«
Gebannt hatte Hannes diesem Wortwechsel zugehört, und als Meinolf nun auch noch auf die übernatürlichen Fähigkeiten desOpus Spiritus zu sprechen kam, da musste er geradezu selig lächeln. Durch die magischen Kräfte, die
Das Buch der Geister
in seinen Lesern erweckt, dachte er wieder, werden wir allen Menschen- und Bücherjägern bald schon so turmhoch überlegen sein, wie sich dieser Berg da vorne über das flache Land erhebt.
Gerade in diesem Moment wandte sich allerdings Meinolf zu ihm um, und Hannes beeilte sich, das glückselige Lächeln aus seinem Gesicht zu vertreiben. Aber der Dominikaner hatte anscheinend noch einen Abglanz davon zu sehen bekommen. Jedenfalls schaute er sonderbar starr zu Hannes hinunter, so als ob auch ihm eben erst klar geworden wäre, wie genau er mit seinen Überlegungen ins Ziel getroffen hatte.
»Siehst du, Mergelin«, sagte er, »jetzt habe ich dir noch keine einzige Frage gestellt – und doch hast du dich schon verraten.«
Hannes schüttelte krampfhaft den Kopf, aber Meinolf bekam es schon nicht mehr mit: Er hatte sich wieder nach vorn gewandt und lenkte seinen Schimmel mit Zurufen und Schnalzlauten den steilen Anstieg zum Berggipfel hinauf.
5
D
er Gipfel des Kalvarienbergs
oder auch Schwarzen Brockens war eine tafelflache Kuppe, die vom Sturmwind der Jahrtausende nahezu kahl gefegt worden war. Nur am Rand der Anhöhe hatten es ein paar sturmgebeugte Fichten geschafft, sich in rinnenschmalen Vertiefungen festzukrallen. Ansonsten sprossen aus dem Basaltboden bloß noch hier und dort ein paar gelbliche Grasbüschel, denen man schon von Weitem ansah, wie hart und scharfkantig sie waren.
Desto großartiger aber hob sich von diesem kargen Untergrund die Kreuzigungsgruppe ab, die mitten auf der Felsplattform aufragte. Sie war gleichfalls aus schwarzem Basalt gemeißelt und bestand aus einem riesenhaften Steinkruzifix, das zu beidenSeiten von sehr viel kleineren Kreuzen flankiert wurde. An dem Kruzifix hing eine kunstvoll modellierte Jesusfigur, während die beiden Schächer an den kleineren Kreuzen nur ganz grob aus dem Stein herausgehämmert worden waren.
An diesem heißen Spätsommertag hatte nicht ein einziger Pilger den Weg hier herauf gefunden. Dennoch befahl der Offizier Elias seinen Soldaten, die verschiedenen Kletterpfade im Auge zu behalten, die auf den Bergflanken zum Gipfel emporführten.
Die Soldaten verteilten sich an den Rändern der kahlen Kuppe. Währenddessen machten sich Meinolf und Elias an dem wuchtigen Steinsockel zu schaffen, auf dem die Kreuzigungsgruppe in den Himmel aufragte. Anscheinend gab es in der Rückfront einen geheimen Hohlraum, der sich durch einen verborgenen Mechanismus öffnen und schließen ließ. Hannes hörte es knirschen und quietschen, aber was genau es mit dem Sockel auf sich hatte, bekam er nicht mit. Doch als die beiden Männer wieder hinter dem Denkmal hervorkamen, konnte er von ihren Gesichtern ablesen, dass sie in dem Versteck keinerlei Briefe vorgefunden hatten.
Mittlerweile hatten die Soldaten Hannes losgebunden und im Schatten einiger windschiefer Fichten auf den Boden gelegt. Sie hatten ihm sogar seine Handfesseln abgenommen, damit er bequemer nach dem Brotbrocken und dem Wasserschlauch fassen konnte, die sie ihm zusammen mit ein paar Spottworten hingeworfen hatten. »Greif zu, Holzmanderl – aber Obacht, dass du nicht zu fett wirst!«
Wie jedes Mal, wenn ihn jemand auf diese Weise verspottete, durchzuckte Hannes ein heißer Schrecken. Schon als Knabe von zehn, elf Jahren war er so dürr wie eine aus morschen Ästen zusammengebundene Vogelscheuche gewesen und leider auch genauso ungelenk. Oftmals waren die anderen Dorfkinder hinter ihm hergerannt und hatten ihn als Holzmanderl, Knochenbündel und was sonst noch verhöhnt. Dabei hatte er gerade damals davon geträumt, wie jener junge Poet und Musikant zu werden, der eines Tages in der Küche ihres Bauernhofs aufgetaucht war.
Harmo – ja, genauso hatte sich der reisende Künstler genannt. Ein höchst sonderbarer Name, dessen angebliche Bedeutung er seinen Zuhörern auch gleich selbst auseinandergesetzt hatte: »Wohlklang und Schmerz.« Verwundert lauschte Hannes in sich hinein. Wie lange hatte er nicht mehr an diesen Jüngling
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