OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
gedacht, an den Wohlklang seiner Verse, seiner Stimme, an sein schwermütiges Lächeln. Blitzartig hatte Harmo damals alle in der Küche verzaubert – die jungen Mägde, die greise Senna, sogar Hannes’ Mutter und natürlich Hannes selbst. Allerdings hatte diese Verzauberung nicht lange vorgehalten, und wenige Tage später …
»Mergelin!« Hannes zuckte zusammen. Der junge Dominikaner stand vor ihm, in seiner flatternden schwarzen Kutte einer übergroßen Krähe ähnlich. »Hoch mit dir – es wird Zeit, dass du meine Fragen beantwortest.«
Hannes rappelte sich mühsam auf. Kaum stand er auf seinen Füßen, da wäre er fast wieder zu Boden gesunken, so matt und schwindlig fühlte er sich noch immer. Allenfalls zwei- oder dreimal hatte er zaghaft in seinen Brotbrocken gebissen und spürte doch schon wieder, wie Übelkeit in ihm aufstieg. Meist genügte es, dass er sich eine Brotrinde oder ein Stück Käse auch nur vorstellte – und schon war ihm so flau zumute, dass er den restlichen Tag keinen Bissen mehr herunterwürgen konnte.
Auf einen Wink von Meinolf hin packte einer der Purpurkrieger Hannes um die Mitte und trug ihn hinter dem Dominikaner her. »Setz ihn dorthin«, befahl Meinolf und deutete auf die Rückseite des Sockels. »Nein, du Dummkopf – doch nicht zu Füßen des gekreuzigten Heilands! Lehne ihn gegen eines der Schächerkreuze. Ja, so ist es gut.« Er wedelte den Soldaten wieder weg und nahm selbst hinter dem Rücken des Erlösers Platz.
Hannes beugte sich möglichst unauffällig nach vorn und versuchte, eine Öffnung oder zumindest einen Spalt im Sockel zu erspähen. Aber er konnte nichts entdecken, was auf einen geheimen Briefkasten oder etwas Ähnliches hingedeutet hätte. Dochwo auch immer sich dieses Versteck befinden mochte – es war jedenfalls eine lachhaft umständliche Einrichtung, verglichen mit den magischen Übertragungskräften, die
Das Buch der Geister
in seinen Lesern erweckte.
»Du verrätst dich schon wieder, Mergelin.« Meinolf drehte sich seitlich zu ihm hin und hob sein angewinkeltes rechtes Bein auf den Felssims. »Dieses überhebliche Grinsen, mit dem du eben den Sockel unter dir gemustert hast – meinst du, ich hätte das nicht bemerkt?« Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und drehte ihn in seiner linken Hand hin und her. »Du hast in dem Teufelsbuch gelesen, Mergelin, stimmt’s?«
Auf Fragen wie diese war Hannes natürlich gefasst. Er würde immer nur zugeben, was Meinolf sowieso schon wusste oder sich zusammenreimen konnte – so jedenfalls hatte er es sich vorgenommen, seit er von den Purpurkriegern eingefangen worden war. Gleichzeitig aber brannte er darauf, Meinolf von der guten, harmlosen, ja durch und durch heilsamen Wirkung des
Buchs der Geister
zu überzeugen – und er ahnte bereits, dass dieser zweite Plan seinem ersten in die Quere kommen könnte.
»Nur einmal kurz hineingespäht«, wiegelte er ab, »da war das Buch noch verschnürt und versiegelt. Ich habe den Umschlag ein wenig aufgebogen und hier und dort ein paar Satzfetzen aufgeschnappt – das ist alles. Und der Herr Unterzensor Skythis«, fügte er eilends hinzu, »weiß es seit Langem.«
»Der Unterzensor Skythis«, wiederholte Meinolf in gönnerhaftem Tonfall. »Weiß er etwa auch, dass du tage- und wochenlang mit diesen Teufelsjüngern umhergezogen bist?«
Vor Hannes’ innerem Auge tauchte der Unterzensor auf, sein wölfisches Antlitz, die schaurigen Schaufelhände. Wie war es nur möglich, dass er selbst wie dieser verbohrte Poetenhasser hatte werden wollen? Jedes herausgebellte Wort aus Skythis’ Mund war für ihn wie eine Offenbarung gewesen, wie der kostbarste Weisheitsschatz. Hannes schüttelte den Kopf – er verstand immer weniger, wie er sich derart hatte verirren und verlieren können.
»Der Herr Skythis und ich wurden getrennt«, sagte er, »als wir Jagd auf
Das Buch
gemacht haben. Auf einmal war er nicht mehr da, aber ich war den beiden immer noch auf den Fersen. Amos und Klara …« Er unterbrach sich, ohne es recht zu bemerken. Vor seinem geistigen Auge war der Unterzensor längst wieder verblasst, und stattdessen sah er Klara vor sich – seine geliebte Lucinda, das schönste Mädchen auf der Welt.
»Und weiter, Mergelin?« Der Dominikaner packte ihn bei der Schulter und drehte ihn schroff zu sich her. »Nun rede schon, Kerl – oder willst du, dass ich dir meine Fragen in den Rücken schneide?« Er fuchtelte mit der Dolchklinge vor Hannes’ Nase hin und her.
Oh nein, das
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