OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
neuerlich hervor. Schließlich befand sie sich hier an einem verborgenen Ort, von dessen Vorhandensein in ganz Nürnberg niemand außer Mutter Sophia, ihrselbst und jenen hilfreichen Frauen wissen konnte! Klara glättete abermals die vor ihr aufgestapelten Blätter und begann, die Geschichte
Vom Felsen, der ein Fenster war
zu lesen.
Augenblicklich versank alles um sie herum, da sie im selben Moment ganz und gar zu Laurenz Answer geworden war.
»Tropfen rannen Ritter Laurentius aus Hemd und Haaren, während er über die Wiese seiner Kindheit auf Burg Answer zuging. Seine Blicke hafteten auf der Silhouette des altehrwürdigen Gemäuers, in dem er einst aufgewachsen war, so wie vor ihm sein Vater, sein Großvater und alle väterlichen Vorfahren bis in unvordenkliche Zeiten zurück. Noch wagte Laurenz kaum zu hoffen, dass die Frau aus dem Brunnen Wort gehalten und ihm wirklich den Weg in seine Vaterswelt gewiesen hatte. Vielleicht würde sich ja die ganze hoch aufgetürmte Festung, auf die er im Morgenlicht zuschritt, im nächsten Augenblick auflösen wie ein Gespinst aus Wolken und Nebel.«
8
E
in gellender Gedankenschrei
riss sie in die Wirklichkeit zurück. Klara, flieh!
Um sie herum zerfiel die Welt von Ritter Laurenz wie Nebel im Sonnenlicht. Die kleine Tür in der Hinterfront des Jagdkastells, die Stufen davor, mit Disteln überwuchert, die gurgelnden Crutzmare …
Du musst fliehen, Klara – lauf! Das musste Mutter Sophias Gedankenstimme sein – doch niemals zuvor hatte Klara die würdige alte Frau derart schreien gehört. So außer sich vor Sorge und Angst.
Benommen schaute sie um sich – sie lag auf dem Bett in der hinteren Kammer von Mutter Sophia und über dem Dachgebälk dämmerte der neue Tag. Um sie herum lagen die Blätter mit der Geschichte aus dem
Buch der Geister
verstreut, die sie während der Nacht gelesen hatte.
Eine verborgene Tür … gegenüber der Truhe … Klara, hörst du nicht? Mutter Sophias Gedankenstimme wurde schon wieder so schwach, dass nur noch Satzfetzen zu verstehen waren. Dafür meinte Klara jetzt ganz andere, grauenvolle Laute zu hören – in weiter Ferne noch und doch unverkennbar.
Ein Trappeln und Trommeln wie von großen Pfoten auf Erde und Stein. Dazu ein Heulen und Winseln und Belfern aus einem halben Dutzend weit aufgerissener Mäuler – die Bluthunde!
Eisige Schauer rieselten Klara den Rücken hinab. Doch, Mutter Sophia , antwortete sie, ich höre Euch .
Aber sie war noch immer benommen, vor Schreck und Überrumpelung wie betäubt.
»Den Wolfsleuten zuvorkommen«,
hörte sie wie aus weiter Ferne einen der Crutzmare gurgeln,
»damit sie euch gar nicht erst gefährlich geworden sein konnten.«
Doch derlei rätselhafte Ratschläge half ihr jetzt natürlich auch nicht weiter.
Die Purpurkrieger waren in der Nähe – und hatten sie womöglich sogar schon aufgespürt. Aber wie war das möglich? Die Bluthunde mussten ihre Fährte doch spätestens unten an der Spitalbrücke verloren haben, als sie in den Kahn gestiegen und über den Fluss geflohen waren.
Die Geheimtür zu den Dachspeichern, Kind …, ächzte Mutter Sophia … Federzug hinter dem Balken … auf jetzt!
Klara rappelte sich auf. Sie schlüpfte in ihre – Adrians – Schuhe und schaute sich gleichzeitig nach der Filzmütze um, aber das verdammte Ding war einfach nicht mehr da!
Gütiger Gott – sie musste die Mütze beim Spital verloren haben, vielleicht sogar am Brückensteg, wo sie in den Kahn gestiegen war! Klara sah mit einem Mal alles erschreckend klar vor sich: Nachdem die Purpurkrieger herausbekommen hatten, dass sie über den Fluss geflohen waren, brauchten sie nur noch die Handvoll Gassen zu durchsuchen, die man vom Heilig-Geist-Spital in so kurzer Zeit mit einem Boot erreichen konnte. Und bestimmt hatten sie die Bluthunde an Klaras Mütze schnüffeln lassen – und deshalb bellten und heulten diese Bestien da draußen wie eineganze Horde Höllendämonen – weil sie witterten, dass sie kurz vor dem Ziel waren!
Während diese Gedanken durch Klaras Kopf wirbelten, rannte sie bereits auf die Verbindungstür zur vorderen Kammer zu. Sie drückte die Klinke herunter, aber die Tür war verschlossen.
Nicht durch diese Tür, Kind!, rief Mutter Sophia mit ersterbender Gedankenstimme. Durch die Geheimtür hinten auf den Speicher … und dann immer weiter von Dachboden zu Dachboden … ich halte die Kerle auf!
Aber was werden sie mit Euch machen? Klara hämmerte gegen die Tür. Ich kann Euch doch nicht
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