OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
ihrem geliebten Valentin verbringen würde. Sie legte sich auf die rechte Seite, stützte ihren Kopf in die eine und glättete den kleinen Papierstapel mit der anderen Hand.
Vom Felsen, der ein Fenster war
, lautete die erste Zeile. Klara fuhr zusammen – vor Freude und mehr noch vor Schreck. Hatte sie es doch geahnt! Die dritte Geschichte aus dem
Buch der Geister
! Rasch faltete sie die Bögen wieder zusammen, damit ihr Blick nicht versehentlich darauf fallen konnte. Auch wenn das Manuskript allem Anschein nach aus Valentin Kronus’ Feder stammte – sie konnte die Geschichte jetzt wirklich nicht auf der Stelle lesen.Dabei schien ihr das Manuskript schon wieder förmlich zuzuschreien, dass sie unverzüglich anfangen sollte, darin zu lesen.
Nein, das geht nicht, dachte sie, das ist viel zu gefährlich! Wenn nun in der Nacht die Purpurkrieger hier auftauchen würden, weil sie aus irgendeinem Grund ihr Versteck gefunden hätten – dann läge sie im magischen Leseschlaf und Cellari könnte sie wie eine Puppe davontragen und in seinen Kerker werfen lassen. Sie würde es nicht einmal mitbekommen, weil sie ja gar nicht sie selbst wäre – sondern Ritter Laurentius, der sein drittes Abenteuer durchlebte.
Außerdem gab es da noch einen Grund, warum sie diese Blätter lieber nicht lesen sollte. Möglicherweise stimmte auch hier die Fassung, die Mutter Sophia von Kronus bekommen hatte, nicht mit der Version überein, die er letzten Endes für
Das Buch der Geister
ausgewählt hatte. Und gerade diese unscheinbaren Abweichungen waren ja vielleicht daran schuld, dass in ihr noch ganz andere magische Kräfte zu erwachen schienen, als Kronus das vorgesehen hatte.
Klara nahm den kleinen Papierstapel und schob ihn in ihr Bündel, das neben dem Bett auf dem Boden lag. Auf diese Weise würde sie das Manuskript morgen nicht versehentlich zurücklassen, falls sie überstürzt aufbrechen müsste. Und für den Moment war es ihr aus den Augen und könnte sie nicht unentwegt verlocken, die dritte Geschichte doch noch auf der Stelle zu lesen.
Sie ließ sich in die weichen Kissen zurücksinken, schloss die Augen und spähte in sich hinein. Doch wie angestrengt sie ihren inneren Himmel auch absuchte – von Amos’ magischem Gestirn, das sonst immer so mächtig gestrahlt und gefunkelt hatte, fand sie keine Spur. So als ob es aus dem Himmel herabgestürzt wäre oder urplötzlich erloschen wie eine Kerze im Wind.
Bei allen guten Geistern, dachte Klara – was hatte das zu bedeuten? Wieder und wieder schloss sie die Augen und lauschte in sich hinein. Amos , rief sie beschwörend. Wo bist du? Was ist mit dir geschehen?
Doch sie erhielt kein Zeichen von ihm, nicht den mattesten Lichtstrahl.
Da wurde ihr himmelangst. Was sollte sie jetzt nur machen?
Darauf gab es nur eine Antwort. Ihr Bündel lag griffbereit neben dem Bett, mit dem Manuskript darin. Sie musste die dritte Geschichte nur lesen und vollkommen verinnerlichen, um die Gabe des magischen Flugs in sich zu erwecken. Wie ein Vogel, ja wie ein Engel könnte sie dann gedankenschnell nach Würzburg fliegen und sich mit ihren eigenen Geisteraugen davon überzeugen, ob Amos wohlbehalten bei Abt Trithemius eingetroffen war.
Einige Minuten lang kämpfte Klara noch gegen den Drang an, das Manuskript aufs Neue hervorzuziehen. Aber sie spürte, dass sie diesen Kampf nicht gewinnen konnte – und dass sie ihn in ihrem tiefsten Herzen auch gar nicht gewinnen wollte.
Hätte Mutter Sophia denn vorhin zu ihr gesagt, dass dieses Manuskript für sie bestimmt sei – wenn auch nur die kleinste Gefahr davon ausginge? Natürlich nicht. Außerdem war Valentin Kronus der weiseste Mann und wortmächtigste Dichter auf der ganzen Welt. Was auch immer sie sich da vorhin eingeredet hatte, von diesen Blättern ging für sie bestimmt keine Gefahr aus. Und vor allem musste sie ja wirklich so schnell wie möglich herausbekommen, was mit Amos passiert war – warum sein Stern von ihrem magischen Himmel urplötzlich verschwunden schien.
Sie spürte doch, dass er am Leben war. Aber irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit ihm – und wenn sie jetzt sofort die dritte Geschichte lesen würde, wäre sie doch bestimmt rechtzeitig vor dem Morgengrauen aus Laurenz’ Welt zurück. Vielleicht bliebe ihr dann sogar noch genügend Zeit, um sogleich auf magischem Weg nach Würzburg zu reisen und nach Amos zu schauen.
Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Sie beugte sich aus ihrem Bett heraus und zog das Manuskript
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