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OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger

Titel: OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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Stein gehauener magischer Zwingkreis.
    Am sonderbarsten aber war das Gewirr aus fingernagelkleinen Kreisen und Bögen, Winkeln und Linien, mit dem das gesamte Zimmer ausgemalt war. Jeder Zoll auf Boden, Wänden undDecke, auf dem Tisch und sogar auf der Sitzbank war mit den eigenartigen Zeichen bedeckt.
    Amos trat vor eine der Wände und fuhr mit der Fingerspitze darüber. Die Zeichen waren in den Stein geritzt und zusätzlich in vielerlei Farbtönen nachgemalt worden – so als ob der Künstler möglichst verhindern wollte, dass sie je wieder entfernt würden.
    Er betrachtete das Muster genauer. Zuerst sah es bloß wie ein Gekrakel aus, aber bald schon entdeckte er, dass sich die Zeichen in ungewissen Abständen wiederholten. Eines von ihnen sah wie ein X mit zerknickten Querbalken aus, die überdies mit Dornenranken umwunden schienen. Ein anderes Zeichen ähnelte einem O, das von einem gefiederten Pfeil durchbohrt worden war. Ein drittes Symbol erinnerte Amos an ein U, dessen Inneres man mit Quadersteinen zugemauert hatte.
    Je länger er diese eigenartigen Zeichen betrachtete, desto unbehaglicher wurde ihm zumute. Der Künstler hatte jeden Fleck mit zerstörten oder verschandelten Buchstaben bedeckt – aber aus welchem Grund nur? Abt Trithemius konnte eine solche Ausschmückung eigentlich nicht gefallen – immerhin galt er als einer der bedeutendsten Schriftgelehrten der Welt. Und doch kam es Amos so vor, als ob Trithemius befohlen hätte, ihn gerade deshalb hierher zu bringen, weil hier alles mit einem Wirrwarr zerknickter und zertrümmerter Lettern ausgemalt war.
    Er setzte sich auf die Steinbank, goss sich Wasser aus dem irdenen Krug ein und leerte den Becher in einem Zug. Auch Brot, Käse und allerlei Früchte lagen auf dem Tisch und Amos ließ es sich schmecken. Aber kaum hatte er fertig gegessen, da sprang er wieder auf und lief rastlos in dem fünfeckigen Zimmer umher.
    Abt Trithemius ließ auf sich warten, doch mit dieser Begegnung hatte Amos es ohnehin nicht besonders eilig. Wenn nur nicht überall dieses Durcheinander aus zerbrochenen und vermauerten Buchstaben gewesen wäre! Selbst der kleinste Fleck und versteckteste Winkel in diesem Gelass war mit den eigentümlichen Zeichen bedeckt. Dem großen A waren die Beine gebrochenund zusammengekettet worden. Wie zum Ausgleich war bei jedem einzelnen R der Schädel aufgeknackt und der obere Querbalken hing, in zwei ungleiche Hälften zersplittert, ins Kopfinnere hinein. Allem Anschein nach hatte es dem Künstler eine boshafte Freude bereitet, sämtliche Buchstaben des Alphabets möglichst fantasievoll und grausig zu verunstalten. Aber was hatte das nur zu bedeuten? Immerhin handelte es sich um ein Klosterbauwerk, und in der Bibel hieß es schließlich, dass die Erde und alle Geschöpfe nichts anderes als Lettern und Wörter im Buch Gottes seien.
    In seinem Rücken erklang leises Räuspern. Amos fuhr herum – in der Eingangstür stand Trithemius.
    »Verzeih mir, ich wollte dich nicht erschrecken.« Der Abt lächelte reuig, eilte auf Amos zu und streckte ihm beide Hände entgegen. »Und warten lassen wollte ich dich natürlich auch nicht – aber du glaubst gar nicht, wie viel Arbeit es macht, ein Kloster zu leiten. Vor allem am Anfang, wenn man erst einmal alle Mönche aus dem lieb gewordenen Trott herausreißen und sie dazu bringen muss, ungewohnte neue Aufgaben zu übernehmen.«
    Er umfasste Amos’ Hände mit den seinen, die verrunzelt waren und fast gewichtlos schienen. »Amos, wie froh ich bin, dich leibhaftig vor mir zu sehen!«
    Amos musste schlucken. Auf einen so freundlichen Empfang war er nicht gefasst gewesen. Trithemius’ Stimme klang noch immer wie das Rascheln von altem Papier, aber abgesehen davon kam der Abt ihm diesmal gar nicht so unheimlich vor. Sein stilles Lächeln erinnerte ihn geradezu an Kronus, der ihn oftmals in dieser Weise willkommen geheißen hatte. Mit seiner schmalen Gestalt, der aufrechten Haltung und den lebhaft blickenden Augen sah Trithemius seinem Logenbruder Valentin Kronus sowieso einigermaßen ähnlich. Sobald er den Mund aufmachte und seine staubige Raschelstimme ertönte, war diese tröstliche Täuschung allerdings wieder dahin.
    »Bestimmt fragst du dich, was es mit all den Zeichen auf sich hat.« Trithemius deutete auf die Wände und auf den Tisch. »In diesem Haus hat bis vor Kurzem ein Eremit gelebt. Sein Name war Paulus und er allein hat die ganze Einsiedelei in dieser Weise ausgemalt.«
    »Aber warum denn?«,

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