OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
dem erfahrenen Zauberer Faust doch aus eigenen Kräften erreichbar sein.
Geraume Zeit dachte Amos noch darüber nach. Doch schließlich wurde er des ziellosen Wanderns und Grübelns müde. Was würden die beiden Mönche da draußen eigentlich machen, wenn er sich mit Gewalt aus der Einsiedelei befreien würde? Er könnte versuchen, mit seinem Kurzschwert die Tür aufzubrechen, oder er könnte warten, bis wieder einmal der Mönch käme, der ihm alle paar Stunden Brot oder Suppe brachte. Den könnte er beiseiterempeln und nach draußen stürmen, vorbei an den überrumpelten Wächtermönchen, und dann im Park eine geeignete Stelleausfindig machen, an der man die Außenmauer überklettern konnte.
Amos ließ sich diese Möglichkeiten durch den Kopf gehen und wusste, dass er nichts davon in die Tat umsetzen würde. Hier drinnen war es für ihn zweifellos sicherer als an jedem Ort außerhalb des Klosters. Für ihn selbst, für Klara und für
Das Buch
. Und was immer sich Trithemius und Faust von ihnen beiden erwarten mochten – sie konnten ihr Ziel nur erreichen, wenn Klara und er selbst mit ihren Plänen einverstanden waren.
Außerdem herrschte in der Einsiedelei eine friedliche Stimmung, die auch Amos mehr und mehr mit Frieden und Sanftmut erfüllte. Durch die magischen Kräfte, die
Das Buch
in ihm erweckt hatte, durch ihre Flucht und all die anderen grässlichen Geschehnisse war er in einen Zustand unaufhörlichen inneren Aufruhrs versetzt worden, der sich unter der Schutzglocke von Bruder Paulus mehr und mehr besänftigte. Die magischen Lichtströme in seinem Innern waren schon in der kurzen Zeit, die er hier verbracht hatte, deutlich matter geworden, und Amos spürte, dass auch seine Augen längst nicht mehr so beängstigend erstrahlten wie noch vor wenigen Tagen.
Er setzte sich auf die Bank, die wie alles hier mit zerstörten und gefesselten Lettern bemalt war. Einige Augenblicke lang drehte und wendete er
Das Buch
noch zwischen seinen Händen, ohne es aufzuschlagen. Aber seine Neugier hatte längst wieder die Oberhand gewonnen.
Er schenkte sich frisches Wasser ein und leerte den Becher in einem Zug. Dann schlug er
Das Buch der Geister
auf und blätterte, bis er die Stelle gefunden hatte, wo die letzte Geschichte begann. Amos holte tief Luft und fing an zu lesen.
2
Vom Fährmann, der stromaufwärts fuhr
In niedergedrückter Stimmung folgte Laurentius Answer dem Pfad, der vom Jagdkastell zurück zum Waldsee führte. So hart sein Vater auch über ihn geurteilt hatte, sagte sich Laurenz – er hatte ja nichts anderes als die Wahrheit ausgesprochen. In höchster Not hatte der Vater ihn ausgesandt, damit er die Kunst des Schwertkampfs erlernte. Mit einer Streitmacht kampferprobter Männer sollte er zurückkehren, um den Vater zu befreien, ihr Besitztum zurückzuerobern. Mit ihrem eigenen Blut sollte er die Wolfsäugigen aus Burg Answer hinausschwemmen – und was hatte er stattdessen getan? Durch Spalte und Ritzen hatte er sich feige herbeigeschlichen und seine Streitmacht bestand einzig aus grünlich glimmenden Gnomen!
»Ach, Vater, ich bin es nicht wert, Eurer Sohn zu sein! Ihr habt alle Eure Hoffnungen auf mich gesetzt – doch ich habe versagt!« So beschuldigte Laurenz unaufhörlich sich selbst und achtete kaum auf seinen Weg. »Aber wie soll ich es nur anfangen, Euch aus den Krallen dieser Tiermenschen zu befreien? Sie sind so viele und bis an die Zähne bewaffnet – und ich bin ganz allein!«
Schließlich sank er auf einen mit Moos überzogenen Baumstamm. Der Wald um ihn herum kam ihm mit einem Mal wie eine ungeheure Totenhalle vor. Kein Windhauch bewegte die Luft, kein Vogelsingen war zu vernehmen. Wie aus Eisen geschmiedet ragten die Bäume einer neben dem anderen in den Himmel, der seinerseits wie aus Blei gegossen schien. Selbst der kleine Fluss, der unweit in seinem Bett dahinströmte, klang in Laurentius’ Ohren leblos, ein mechanisches Geschiebe von Kieseln und Schlamm.
»Ach, Lucinda«, seufzte er, »wäre ich nur bei Euch geblieben, Geliebte – in Eurem Muschelturmsaal, wo sichvon früh bis spät alles munter im Tanz dreht.« Voller Sehnsucht dachte er an seine Liebste und die bunte Schar der Künstler und Narren, die ihr Langeweile und Trübsinn mit Gemälden und Gesängen, Versen und Schelmenstücken vertrieben. Während er selbst hier im Dickicht festsaß, gefangen zwischen zwei Welten – und in keine von beiden würde er jemals wieder hineingelangen! Nach Burg Answer konnte er nicht
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