OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
Seine Lippen flüsterten noch immer liebestrunkene Verse, und nun merkte er auch, dass er nach links hinübergebeugt auf der Steinbank saß, so als ob dort wahrhaftig Lucinda säße und er selbst niemand anderes wäre als Ritter Laurenz.
»Aber ich bin Amos«, murmelte er und rieb sich die Augen, »Amos von Hohenstein.« Und statt einer magisch an seine Seite gegaukelten Lucinda würde er jetzt sehr viel lieber der wirklichen Klara Liebesverse zuwispern und sie umarmen und zärtlich küssen – wenn sie nur endlich bei ihm wäre!
Wie spät mochte es eigentlich sein?
Amos stand auf und trat zu einem der Fenster. Draußen schien noch die helle Sonne, doch die Schatten wurden bereits wieder länger. Es musste also drei oder vier Uhr nachmittags sein – und das hieß ja wohl, dass Klara nicht mehr fern sein konnte. Allenfalls noch ein paar Stunden, dann würde sie hier zu ihm in die Einsiedelei kommen – und damit, fiel ihm ein, wäre es ja eigentlich eine Zweisiedelei.
Darüber musste er lachen. Sowieso glitzerte und prickelte in ihm noch alles von der ausgelassenen Stimmung bei Laurenz’ Hochzeitsfeier.
Ein weiteres Mal versuchte er, seinen Kopf durch die Fensterluke zu schieben – vielleicht könnte er ja doch noch sein und Klaras magische Herzen miteinander verbinden, wenn er nur seinen Kopf ein wenig weiter ins Freie bekäme. Aber die Luke war so schmal, dass man allenfalls ein dünnes Büchlein hindurchzwängen konnte, und wie Amos seinen Kopf auch drehte und wendete, er passte einfach nicht hindurch.
Verdrossen schaute er nach draußen, auf den sonderbar geformten Busch, der zu allem Überfluss auch noch die Aussicht versperrte. Und da erst wurde ihm klar, dass auch dieser üppig belaubte Buchsbaum vor dem Fenster zu einem schadhaften Buchstaben zurechtgestutzt worden war – einem großen B, dem man gleichsam den Hals herumgedreht hatte. Mit dem Gesicht schaute das B nach hinten, während sein Bauch nach vorne wies – sofern bei einem aus Buschwerk zurechtgestutzten B von Kopf und Bauch die Rede sein konnte.
Oder spielte ihm seine Einbildungskraft wieder einmal einen Streich? Er ging zum nächsten Fenster. Vor dieser Luke wuchs ein kümmerlicher Strauch, der wie eine magere, nach links hin gewölbte Mondsichel aussah. Das obere Ende der Sichel hing wie absichtlich abgeknickt herunter, das untere war zu einem Knoten verschlungen – ein verschandeltes C! Der Busch vor dem dritten Fenster war ein windschiefes U, das überdies ringsherum zerdellt und zerbeult schien wie ein alter Eimer. Und schließlich der vierte Busch – ein an Händen und Füßen gefesseltes H.
BCUH
Kopfschüttelnd ging Amos noch einmal von Fenster zu Fenster. Dieser Bruder Paulus wurde ihm immer unheimlicher. Der alte Eremit musste sich vor der Magie von Wörtern und Schrift wie vor nichts sonst auf der Welt gefürchtet haben. Deshalb hatte er nicht nur jeden einzelnen Buchstaben verunstaltet, sondern zusätzlich einzelne Wörter absichtsvoll entstellt. Und wahrscheinlich hatte er das nicht nur da draußen bei den Busch-Buchstaben so gemacht, sondern auch die unzähligen Lettern auf Wänden und Böden, Decke, Bank und Tisch so durcheinandergebracht, dass sie nur Wortruinen formen konnten.
Eifrig lief Amos nun überall in der Einsiedelei herum, um seine Eingebung zu überprüfen. Er blieb hier vor einer Wand stehen, entzifferte dort eine Buchstabenkette am Boden oder auf der Tischplatte – und jedes Mal fand er seinen Verdacht bestätigt. SRHCFTI stand dort statt »Schrift«, oder EISAFTNA, oder TRENTEL,oder SCHTAUBBEN. Jedes dieser in sich verheerten Wörter war überdies mit gefesselten oder zertrümmerten Lettern geschrieben, genauso wie bei den Wortruinen AGEIM statt »Magie«, bei SEIOEP oder bei
ANTIBLENDFIRKUGS
– einer boshaft verzerrten Wörterfratze, hinter der Amos erst nach längerem Nachsinnen die »Einbildungskraft« entdeckte.
Aber weshalb, bei allen guten Geistern, hatte sich Bruder Paulus diese Mühe gemacht? Es musste ihn Monate oder wahrscheinlich sogar Jahre gekostet haben, alle diese verwüsteten Wörter mit zerstörten Buchstaben niederzuschreiben.
Während Amos noch darüber nachdachte, vernahm er überaus leises Schnauben und Wiehern. Es hörte sich seltsam vertraut für ihn an, doch zugleich war es so gedämpft zu ihm hereingedrungen, dass er sich wiederum fragte, ob er es sich nur eingebildet hatte. Aber nein, da erklang abermals jenes Schnauben – von Klaras Füchsin?
Rasch lief Amos zu der
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