OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
Meeresmuschel, von der Decke des Geistersaals herabgewachsen war –, und seine Augen waren festgeschlossen. So bekam er auch nicht zu hören, was eine noch junge Frau aus der Geistgemeinde irgendwann im weiteren Verlauf der Zeremonie vorlas. Sie erzählte, wie sich – laut einer Vision des neutestamentarischen Sehers Johannes – das Ende dieser Welt abspielen würde. Es war eine düstere und verwickelte Geschichte, bei der eine Katastrophe die nächste jagte, und vor allem ein Satz blieb Amos unauslöschlich in Erinnerung. »Der Himmel verschwand wie eine Buchrolle, die man zusammenrollt« , las die junge Frau vor, und da schaute Amos zu Bruder Egbert hinüber, der einige Schritte entfernt auf einem Felssockel saß. Der alte Mann nickte ihm mit ernster Miene zu und fuhr mit dem Zeigefinger über das Kruzifix vor seiner Brust.
»Denn diese ganze irdische Welt ist nichts anderes als ein Buch«, rief irgendjemand aus der Gemeinde aus. »Ein Buch, das Gott durch Seine Geister geschrieben hat – und alles, was uns, Seine Geschöpfe, wirklich und fühlbar umschließt, sind für Ihn und Seine Geisterschreiber nur Buchstaben, Wörter und Sätze im Buch der Schöpfung.«
»Oh Herr«, riefen nun alle wie aus einem Mund, »erleuchte uns, damit wir uns selbst und unsere Nächsten zu lesen lernen! Schicke uns Deine Geister, auf dass sie uns Weisheit schenken – denn nur so können wir verstehen, was Du über uns in Deinem Schöpfungsbuch verzeichnet hast.«
Amos und Klara wechselten immer wieder verwunderte Blicke. Was sie da zu hören bekamen, erstaunte sie sehr – doch zugleich spürten sie beide, dass sie dem tiefsten Geheimnis des Opus Spiritus und des
Buchs der Geister
in diesen Augenblicken näher waren als jemals vorher.
Zumal ganz am Ende des Geisterdienstes nochmals von einem Buch die Rede war – einem Buch, das vielleicht nichts anderes als die Urschrift des
Buchs des Geister
war. Bruder Egbert, der bis dahin nur aufmerksam zugehört hatte, erhob sich von seinem Felssitz. Und obwohl er sich im Reden hin und her wandte und bloß ab und an in Amos’ und Klaras Richtung schaute, spürten sieklar und deutlich, dass seine Worte hauptsächlich ihnen beiden galten.
»In der Heiligen Schrift steht auch geschrieben, dass einst ein Engel aus dem Himmel herabkam«, rief er aus und seine Stimme hallte von den Wänden der gewaltigen Felskathedrale wider. »Sein Gesicht war wie die Sonne und seine Beine waren Feuersäulen. In der Hand hielt er ein kleines, aufgeschlagenes Buch« , fuhr Egbert fort und sah gerade in diesem Moment wie zufällig zu Amos und Klara. »Er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer und den linken auf das wüste Land und rief laut, so wie ein Löwe brüllt. Nachdem er gerufen hatte, erhoben die sieben Donner ihre Stimmen – und das sind die sieben mächtigen Geister um den Thron des Herrn. ›Alle Geheimnisse Gottes sind in diesem Buch verzeichnet‹, rief der Engel aus. Und dann riss er alle Blätter aus dem Buch heraus und verstreute sie über dem Meer und dem wüsten Land und so entstand unsere irdische Welt. Die Blätter rieselten hernieder und die Erdteile hoben sich aus den Fluten empor und bevölkerten sich mit Tieren und Menschen. ›Wenn alle Geheimnisse Gottes‹, rief der Engel aus, ›die in diesem Buch verzeichnet waren, aufs Neue in einem Buch zusammengefügt sind, sodass die Menschen sie lesen und sich zuinnerst aneignen können – dann wird eure Teufelsknechtschaft enden und ihr alle sollt erlöst werden.‹«
Eine ungeheure Aufregung ergriff Amos, als er diese Verkündigung hörte. Also enthielt das
Das Buch der Geister
nichts Geringeres als die Geheimnisse Gottes, die einst von jenem Engel über der Erde verstreut worden waren? Ihm wurde so schwindlig, dass er von dem Felssims heruntergefallen wäre, wenn nicht Klara gerade in diesem Moment seine Hand ergriffen hätte. Mit der anderen Hand tastete Amos nach dem
Buch der Geister
– es steckte noch genau dort, wo er es vorhin verwahrt hatte, und in seiner Verwirrung kam es ihm vor, als ob das wilde Klopfen von dem Buch selbst ausginge, das er in der Innentasche über seinem Herzen trug.
7
E
rst am Nachmittag
des folgenden Tages sahen sie Bruder Egbert wieder. Auf Stroh gebettet, in Decken und Felle gewickelt, hatten sie in dem kleinen Felsgelass eine ruhige Nacht verbracht – die erste seit langer Zeit, in der sie beide unbesorgt schlafen konnten, ohne Kummer oder Angst vor Verfolgern. Weiter hinten in einer Wandnische hatte
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