Oracoli (German Edition)
Wahl hatte. Sie sollte ihre Feder finden, mit der sie am sichersten umgehen konnte. Nichts sollte dem Zufall überlassen bleiben. Jedes Blatt des kostbaren Papiers sollte ein kleines Meisterwerk werden. Die Federn waren fertig. Nun holte er ein Glas mit Tusche aus der Tasche, öffnete es und machte mit einem Pinsel Probestriche auf ein Schmierblatt. Die Tusche hatte Magnus zu Hause vorbereitet und eins zu eins mit Wasser verdünnt. Das Wasser hatte er zum Teil wieder im Backofen verdunsten lassen. Durch diese Prozedur bekam die Tusche eine körnige Konsistenz. Schriften, die älter als hundert Jahre alt sind, bekommen im Laufe der Zeit diese Körnung. Sie war ihm aber nicht geschmeidig genug, deshalb gab Magnus ein wenig Chinatusche hinzu, die er in Coras Equipment gefunden hatte. Nun war sie blass, körnig und geschmeidig. Perfekt.
Es war Mitternacht geworden, als Magnus ihr die Utensilien zum Tisch brachte. Er betrachtete zufrieden die vielen Zeichnungen, die auf dem Tisch herumlagen. »Fantastisch, Cora, ich brauche das Buch gar nicht zum Vergleich, ich sehe es. Die sehen wirklich nach Grünewalds Vorstudien des Altars aus.« Cora fühlte sich geschmeichelt. »Ich bin völlig geschafft, machen wir morgen weiter?«
»Ich bin auch müde … schaffen Sie die ersten drei Studien? Wir brauchen schließlich morgen eine Beschäftigung für mich. Ich könnte damit hausieren gehen, wenn Sie verstehen was ich meine. Wir wüssten dann auch sicher, wie es weitergeht. – Ich besorge uns auch einen schönen Wein von der Tankstelle, ich hab jetzt im Moment eh nichts zu tun … bitte, Cora.«
›Wie kann man dem Jungen nur was abschlagen‹, dachte Cora und lächelte ihn an. »Okay, ich fang' schon mal an. Besorgen Sie Sekt, der macht nicht so müde.« Sie kramte in ihrer Kitteltasche und gab ihm einen Haustürschlüssel. Beeindruckt über Coras Vertrauen, nahm Magnus den Schlüssel an sich. Er sah sie für einen Moment verträumt an. »Champagner, ich guck' mal, ob ich irgendwo Champagner auftreiben kann«, sagte er fröhlich und verschwand.
Sie hatte erst keinen Mut, das kostbare Papier mit Tusche zu berühren. Doch nachdem Cora einmal ihre Hemmungen überwunden hatte, flog die Feder nur so über das Blatt. Auf dem alten Papierbogen zeichnend, kam sie sich schon wie Grünewald vor. Cora hatte aus dem Buch erfahren, wie wichtig der Altar für Grünewald war. Es wurde seine Lebensaufgabe, ihn fertig zu stellen. Sie versuchte, sich den spätmittelalterlichen Angstglauben zu vergegenwärtigen. Cora war von den Dämonen beeindruckt, doch sie entschied sich für das Engelstrio und wurde gerade fertig, als Magnus durch die Ateliertür kam. Er sah die Zeichnung, stellte die Flaschen auf den Tisch und kniete sich vor ihr auf den Boden. Ehrerbietig ließ er sein Haupt herab. »Meister Grünewald, ich habe Euch Champagner mitgebracht.«
»Ja, ja, erhebe er sich, Schüler, ich hole uns den Sektkühler und Gläser.«
Magnus wurde durch die laute Sexwerbung des Fernsehsenders wach, er musste irgendwann zwischen Boston Legal und Monk vorm Fernseher eingeschlafen sein. Benommen sah er zu Cora, auch sie war eingeschlafen. Über ihre Arbeit. Auf leisen Sohlen schlich er sich zu ihr und betrachtete fasziniert die Zeichnungen. Es waren fünf Vorstudien. Er schrieb Cora einen Zettel, deckte sie mit seinem Blazer zu, nahm die Studien an sich und verließ das Haus.
»Haohahaha, das ist ja fantastisch, nein, das ist einfach brillant, hoahahaha. Frau Lahn hat die gezeichnet? Junge, ich hätte sie Euch abgekauft, aber Ihr wollt die Zobiak, diese alte Hexe 'reinlegen, gut, gut, haohahaha, ich bin dabei, Magnus.«
»Du kennst die Zobiak?«
»Ich kenne fast alle Galeristen hier im Ruhrgebiet«, übertrieb er. Magnus wusste, warum Cora Sonja hasste, ihm war aber nicht klar, warum Ariel sie eine Hexe schimpfte. »Warum nennst Du sie eine Hexe?« Ariels Miene verdunkelte sich. »Das Weib ist von vorne bis hinten durchtrieben.« Er legte die Zeichnungen in die Mappe zurück, ging zur Werkbank und nahm einen fertig geschliffenen Brillanten aus dem Spannfutter der Schleifmaschine. Den hielt er Magnus unter die Nase. »Du hast keine Ahnung vom Diamantenhandel, stimmt 's?«
»Stimmt.«
»Nun gut. Aber Du weißt, dass ein Diamantenschürfer in Südafrika mit 30 Euro die Woche eine zehn-köpfige Familie ernähren muss.«
»Davon habe ich gehört, ja.«
»In Vietnam gibt es
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