Orangenmond
aufgestiegen. Es tat ihr leid um Nina K., aber sie konnte ihr nicht mehr helfen. Ließ sie wirklich die Kolleginnen im Stich? Die bis dahin gesicherten Spuren waren uneindeutig und nicht zuzuordnen. Mehr Proben gab es zurzeit nicht. Die SoKo Heuhaufen trat auf der Stelle, und der Fall machte seinem Namen alle Ehre – sie suchten tatsächlich nach Hinweisen wie nach der sprichwörtlichen Nadel.
»Und Silke ist morgen Nachmittag auch nicht da, ihre Zwillinge haben ein Musikvorspiel.«
Und dann, das erste Mal seit vier Jahren, in denen Eva im LKA beschäftigt war, rastete sie aus.
»Musikvorspiel!? Wenn die zu einem Musikvorspiel geht, habe ich auch eins!! Und zwar weit weg, in Italien! Bei mei nen Überstunden könnte ich sogar vier Wochen bleiben, habe aber nur zwei beantragt. Also vergiss es, Ulla. Ich fahre!« Abrupt drehte sie sich um und marschierte zur Tür hinaus.
Ulla blieb mit offenem Mund zurück.
Eva spürte immer noch das gute Gefühl ihres Abgangs aus der Abteilung in sich summen. Acht Stunden Fahrt mit Georgs Mutter konnten sie daher nicht schrecken. Sie hatten verabredet, Emil, Helga und Gepäck in der Villa bei Helgas Bruder Kurt abzuladen, und nach einer Nacht ginge es dann am nächsten Morgen weiter nach Italien. Richtung Forlì, wo Jannis gerade seine Kollegin Anna besuchte. Das sei doch sehr praktisch, hatte Georg gesagt, so würden sie gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Was danach kam, wisse er noch nicht, das könnten Jannis oder Anna ihnen hoffentlich sagen.
Eva seufzte leise. Sie hatten noch keine Hotelreservie rung, sie hatten keinen Reiseführer, keine Tipps von Freun den oder Google Maps. Selbst der Krimi, den sie lesen wollte, spielte in Finnland! So ziellos und unvorbereitet war sie noch nie in ein Land gefahren, dabei war die Vorbereitung doch immer das Schönste an einer Reise. Und das Wieder-nach-Hause-Kommen. Wenigstens hatte sie ihre drei unver zichtbaren Reiseutensilien dabei: Ohrenstöpsel, Schlafmaske und den schwarzen Paschminaschal.
Die Stunden vergingen schnell, der bewölkte Himmel klarte langsam auf, je weiter sie nach Süden kamen. Es gab nur wenige Baustellen und kaum Verkehr, obwohl es der zweite Tag der Sommerferien in Schleswig-Holstein und Hamburg war. Zweimal Halt an einer Raststätte, dann begrüßte sie strahlend blauer, bayrischer Himmel. Sie fuhren an dem gigantischen Kissen der Allianz-Arena vorbei und näherten sich immer schneller München.
»Ach, das spießige Minga«, seufzte Helga laut und dann aus vollem Herzen: »Wie ich es hasse!«
»Ich finde es super!«, ließ Emil verlauten und warf seine Haare nach hinten. Sein erster Satz seit der letzten Rast vor dreihundert Kilometern.
»Ach, Emilchen. Du bist ja auch nicht die Tochter von Heribert Wassermann, die hier aufwachsen musste!«
Georg schnaubte: »Helga! War es wirklich so eine Strafe, in einer großen Villa in Bogenhausen aufzuwachsen? Mit zwei Hausangestellten und einem Chauffeur? Deine Mutter war eine echte Lady und trotzdem sehr lieb, Brüderchen Kurt hat sich schon immer von dir herumkommandieren lassen, und dein Vater saß in seinem Studio am Flügel und hat den ganzen Tag Schlager komponiert. Den hast du kaum gesehen!«
»Und Filmmusik! Schlager und Filmmusik, bitte! Er war ein Genie. Ein extreeemes Genie. Ohne Frage. Aber er hat uns immer spüren lassen, wie enttäuschend unsere fehlende Musikalität für ihn war.«
»Aber dein Bruder und du lebt doch schon seit Jahren recht komfortabel von den Tantiemen des guten Heribert!«
»Ach, von Tantiemen leben … ich habe immer mein eigenes Leben geführt, ich habe immer gearbeitet.« An dem leichten Zucken von Georgs Schultern sah Eva, dass er eine Bemerkung unterdrückte. Sie wusste aus seinen Erzählungen, dass Helga in jungen Jahren versucht hatte, mit Tanzstunden ihr eigenes Geld zu verdienen, diese aber oft verschlief, und in späteren Jahren dann merkwürdige Hutkollektionen erschaffen hatte, die niemand kaufte. Und obwohl sie so oft mit dem kleinen, vaterlosen Georg umgezogen war – nach Saint Tropez, Paris, Toulouse und Dortmund –, der Scheck ihres Vaters hatte sie überall gefunden und war auch immer von ihr eingelöst worden.
»Und jeder, der dich kennenlernt, singt erst mal ›Ach, das Fräulein Müller‹, oder eins dieser verdammten Lieder«, brummte Helga.
Sie bogen in eine Auffahrt ein, an deren Ende ein dreistöckiges, von Wein bewachsenes Haus mit grünen Fensterläden und einem vorspringenden runden Erker
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