Orangentage
entdeckte, dass sie auf dem rechten Augenlid eine Wimper hatte, die länger war als die anderen. War das nicht sensationell? Die meisten Leute haben doch alle gleich lange Wimpern, aber über Hankas rechtem Auge lehnte sich eine gegen die Regel auf und wuchs, wie es ihr gefiel. Ein klarer Beweis dafür, dass Hanka auÃerordentlich war. Darek drückte sie an sich, nahm ihren Orangenduft wahr (Shampoo? Seife? Oder ein grundlegendes Identifikationsmerkmal, mit dem sie auf die Welt gekommen war, wie zum Beispiel Fingerabdrücke?). Er fühlte die Rundungen ihres Körpers und überlegte, wie sie wohl ohne T-Shirt aussah. Letztes Jahr â nein, es war schon zwei Jahre her â hatten sie zusammen im Fluss über dem Wehr gebadet, und obwohl er ihr damals nicht so viel Aufmerksamkeit gewidmet hatte wie heute, war ihm doch aufgefallen, dass das Oberteil ihres Badeanzuges funktionslos und gerade auf ihrem Körper saÃ, als hätte es nichts zu verbergen. Jetzt war die Situation anders. Unvergleichlich plastischer. Behutsam schob er die Hand höher. Er spürte die Wölbung ihrer Rippen und darüber ⦠Sie hatte keinen BH an! Schnell kehrte seine Hand zurück zur Hüfte.
»Was ist?«, flüsterte sie.
»Nichts.«
Er fühlte sein Herzpochen im Hals, unter der Zunge und in den Zähnen. Auf das Küssen konnte er sich nicht mehr konzentrieren.
»Was ist?«, fragte Hanka wieder und ging ein wenig auf Abstand.
»Nichts«, wiederholte Darek. Mit zugeschnürter Kehle fügte er hinzu: »Du trägst keinen BH.«
»Schlimm?«
Er schüttelte so heftig den Kopf, dass ihm die Haare von den Schläfen flogen.
»Es ist mir einfach nur aufgefallen und ich hab gedacht ⦠Du weiÃt schon.«
»Ich weià nicht.«
»O doch.«
Ein paar Sekunden schauten sie sich schweigend an. Dann blitzten Hankas Augen auf. Sie hatte begriffen.
»Du würdest gerne sehen, wie ich aussehe?«
»Wenn du es willst«, sagte er. Sofort wurde ihm klar, dass sie seine Antwort falsch auslegen könnte, und er verbesserte sich: »Ich meine ⦠wenn es dir nichts ausmacht.«
Ihr Blick forschte in seinem Gesicht, es schien, als würde sie zögern. Dann schlüpfte sie plötzlich aus ihrer Weste und streifte sich mit einer resoluten Bewegung das T-Shirt über den Kopf. Sie war nicht sonnengebräunt. Ihre Haut hatte die Farbe von frisch gewonnenem Akazienhonig. Alles an ihr war noch schöner, als er es sich vorgestellt hatte, noch unglaublicher. Absolut einzigartig. Wie in Gemeinschaftskunde. »Auf unserem Planeten existieren keine zwei Individuen, die identisch sind«, hatte ihnen die Lehrerin erklärt, die ihren Stoff nicht vom Lehrplan abhängig machte, sondern von ihrer Laune. Wenn sie mit dem falschen Fuà aufgestanden war, nahmen sie Sklaverei und diktatorische Regimes durch, und wenn sie gut in den Tag gekommen war, konzentrierte sie sich auf positive Lehrinhalte. Eines ihrer beliebtesten Themen war die Einzigartigkeit. Sie sah sie überall. »Die Natur, Gott, das Weltall â nennt es, wie ihr wollt â bieten uns eine unerschöpfliche Auswahl von Variationen. Nicht anders verhält es sich mit der menschlichen Gesellschaft. Jeder von uns ist eine einzigartige Komposition von Einzelheiten, die zusammen ein nicht reproduzierbares Original ergeben.«
Sie hatte recht. Darek konnte von dem nicht reproduzierbaren Original, das er vor sich hatte, nicht die Augen lassen.
»Hanka, du bist â¦Â«, fing er an und verstummte wieder. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Hübsch? Bildschön? Brrr, alles klang absolut kitschig. Banal. Darek spürte, wie er rot wurde, und senkte verwirrt die Augen. Sein Blick fiel auf Hankas Bauch. Er kannte ihn. Manchmal schaute er unter ihren kurzen Tops und abgeschnittenen T-Shirts hervor. Jetzt aber war er anders. Etwas glitzerte dort. »Du hast dir den Bauchnabel durchstechen lassen?«
Sie nickte strahlend. »In Prag, bei meiner Tante. In diesen Dingen ist sie extrem fortschrittlich. Sie selbst hat Piercings überall, wo es nur geht. Meine Eltern wissen noch nichts davon.«
»Von den Piercings bei deiner Tante?«
»Von meinem! Aber das ist noch nicht alles!«
Sie drehte sich um und Darek erblickte ein kleines Bild unter ihrem Schulterblatt.
»Was ist das?«
»Ein Tattoo. Gefällt es dir?«
Darek beugte sich vor.
Weitere Kostenlose Bücher